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Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: «Wo Sorge um den Cousin war, bleibt blanker Hass»

Mammutli hilft | Didi Müller aus Burgistein ist im Sicherheitsdienst tätig. Zurzeit allerdings hält er sich in der Ukraine auf – zum sechsten Mal seit Kriegsausbruch. Vor zehn Tagen starteten er und seine drei Mitfahrer mit einem 18 Meter langen Lkw, den die Firma Wittwer Wattenwil gratis zur Verfügung stellt, und einem Kleintransporter – beide Fahrzeuge voller medizinischer Instrumente und Hilfsgüter – bei der Landi in Thierachern.

Ukraine
Die drei Chauffeure und die vier Fanclub-Frauen: Mitte (2.v.r.): Helvetia. Foto: Sonja L. Bauer

Es ist noch nicht hell. Und es ist nicht warm. Schliesslich ist es früher Morgen, 06.15 Uhr. Es ist der 26. Februar. In der Landi in Thierachern bei Thun ist es noch dunkel. Kaum ein Auto passiert die Hauptstrasse. Doch: Vier in Schweizer Flaggen gehüllte Frauen stehen erwartungsvoll im Dunkeln, spürbar aufgeregt und auch aufgewühlt. Sie spüren die Kälte des Morgens nicht, dafür die Wärme in ihren Herzen: Sie erwarten Dieter Müller, genannt Didi, der mit seinem Team, das sich stets anders zusammensetzt, bereits zum sechsten Mal mit einem18 Meter langen Lkw sowie einem Lieferwagen, beide mit Anhänger, die lange Reise ins Kriegsgebiet der Ukraine auf sich nimmt. Und der im Vorfeld über Monate Hilfsgüter zusammentrug. Darunter medizinische Gerätschaften für Spitäler, OP-Instrumente, Medikamente, Rollstühle; aber auch Schulhefte und Computer. Und der die Hilfsgüter gleich selbst in die Ukraine fährt, «damit sie am richtigen Ort ankommen».

Helvetia ist immer dabei

«Sie kommen», ruft plötzlich eine Frauenstimme. «Schnell, macht euch bereit!» Die Frauen schwenken die Flaggen, darunter auch blau-gelbe. Auch der Kreisel, den die Fahrzeuge passieren, haben sie im Vorfeld mit den Farben der Schweiz und der Ukraine geschmückt. «Das hat Tradition», sagt Annemarie Steffen, alias Helvetia. Und der Name ist treffend. Denn Steffen zieht «den Karren», unterstützt mit «ihren» Fanclub-Frauen die Chauffeure, gibt ihnen Schokolade mit auf die lange Reise. Die ehemalige Pflegefachfrau ist zupackend, grossherzig, eine Frau der Tat. Bei ihr fühlt sich aufgehoben, wer Geborgenheit braucht. Und die in Krieg und Ferne fahrenden Männer können Zuspruch gebrauchen. Helvetia ist eine echte Helvetia eben.

Didi Müller fährt vorerst den Kleintransporter, in Bern wird das Team noch den vierten Fahrer, den Pflegefachmann Philipp Richter abholen. Das 18-Meter-Monstrum wird von Christian Gerber gefahren, Bruno Zimmermann steigt als «Co-Pilot» mit in die Fahrerkabine. Bis am Mittag wollen die Vier an der Grenze sein, am nächsten Tag in Österreich, wo sie bei Freunden übernachten werden, und am Mittwoch an der ukrainischen Grenze. «Vielleicht müssen wir auch über Ungarn fahren», so Müller. Via Whatsapp-Status können Interessierte ihren Weg verfolgen. Und tatsächlich, ja: Diese Reise geht ans Herz.

Zwei Jahre Krieg klein

Mammut statt Bär im Berner Wappen

Doch zurück zum Start: An besagtem Montag fährt das Team um Didi Müller die Lkw erst hinter die Landi, um die treuen Frauen des Fanclubs – darunter die Mutter des Chauffeurs Bruno Zimmermann – in die Arme zu schlies­sen. Der Augenblick ist berührend: Die Fahrer sind guten Mutes, bestärkende Wünsche werden ausgesprochen, Späs­se gemacht. Dann gehts los: Der schwere Lkw, den die Firma Wittwer aus Wattenwil dem Team kostenlos für die gute Sache zur Verfügung stellt, fährt vom Parkplatz der Landi, gefolgt vom eigenen Mammutli-hilft-Transporter. Im Berner Wappen, das an der Seite des Fahrzeugs prangt, befindet sich kein Bär, sondern ein Mammut, das Logo der organisierten Helfenden um Didi Müller und seine Lebenspartnerin Sabine Beer: «Mammutli hilft». Die Fanclub-Frauen sind spürbar gerührt, Helvetia wendet den Kopf ab: «Möge alles gut gehen».

Unterdessen ist das ehrenamtlich agierende Team über Ungarn in der Ukra­ine angekommen. Regelmässig senden Didi Müller und sein Team Bilder in die Redaktion. Drei Wochen werden die Männer in der Ukraine bleiben, wo die Situation angespannt ist.

«… dann gehe ich auch schneller …»

Wie aber kam Didi Müller zum Projekt? «Ich hatte einen ukrainischen Mitarbeiter in meinem Team. Als der Krieg ausbrach, reiste er sofort heim.» Er habe stets den Kontakt mit ihm gehalten. «Er hat Schlimmes, Unsagbares erlebt inzwischen.» Kürzlich erst habe er erfahren, so Müller, dass sein Mitarbeiter auf eine Streumine getreten sei. «Fünf Jahre arbeitete er in meiner Firma. Nun ist er tot.» Die Mentalität der Ukrainerinnen und Ukrainer habe sich in den sechs Malen, in denen er im Kriegsgebiet gewesen sei, drastisch verändert, so Müller. «Erst waren alle bestürzt und ohnmächtig, dass sie gegen Mitglieder der eigenen Familien in Russland kämpfen sollten. Inzwischen ist da nur noch Hass auf den Aggressor. Krieg schürt Hass über Generationen hinweg.» Er tue es, weil er aktiv helfen wolle. «Es ist eine Freude dahinter, die unbeschreiblich ist. Wir werden mit offenen Armen empfangen, die Menschen in der Ukraine sind enorm liebenswerte Menschen.» Und Angst? Kennt er das nicht? «Nein, es ist nicht Angst, aber ich habe gros­sen Respekt, wie wohl alle.» Manche Menschen zitterten bereits, wenn sie den Luftalarm hörten, andere blickten sich kaum mehr um. Er mache es meist so wie das Militär: «Gehen die Männer schnell weg, gehe ich auch schneller …» Und nein, resignieren tue er nicht. Auch wenn es nicht gleich gelingen sollte, ins Land hineinzukommen. Und so weit sei die Reise gar nicht. Im Rahmen seiner Firma sei er auch schon für Tierärzte in Süditalien im Einsatz gewesen. «Luftlinie gerechnet, ist die Ukraine kaum weiter weg. In die Ukraine sind es 1500 Kilometer. Es sind 60 Kilometer Unterschied zu Süditalien. Und unterwegs und vor Ort nächtigen wir bei Menschen, die mittlerweile zu Freunden wurden.» Doch zurück zur Hinreise: Vor der Grenze fanden die Männer einen 19 Kilometer langen Lkw-Stau vor. «Normale Lkw-Fahrer müssen bis zu drei Tagen warten, bis sie die Grenze passieren dürfen. Und sie haben kein Bett und keinen Kühlschrank im Wagen wie wir.» Sein Team hatte Glück: «Plötzlich tauchte die Polizei auf und eskortierte uns bis zur Grenze. Das war ein berührender Moment. Die Anwesenden klatschten in die Hände vor Freude.» Zurzeit sei es relativ ruhig, dort, wo sie seien. Weiter ins Zentrum wagten sie sich aber diesmal nicht, so Müller. Heute treten die vier Männer die Heimreise an.

Spenden: www.427sicherheit.ch/Ukraine

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