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«Man sollte seinen Interessen folgen»

Thun • Jimmy Martin Gilgen startet im Mai in die 24. Saison als Bademeister der Stadt Thun. Ein Schicksalsschlag Anfang 30 bestimmte seinen Lebensweg, den das sportliche Multitalent fortan im Zeichen der Freiheit beschritt.

| Bettina Gugger | Begegnung
Mann
Martin Jimmy Gilgen im Flussbad Schwäbis. Bettina Gugger

Es ist ein sonniger Mittwochmorgen. Drei Schulklassen vergnügen sich auf dem Eis. «An manchen Tagen haben wir bis zu 20 Klassen zu Gast», so Jimmy Martin Gilgen, Eismeister der Kunsteisbahn Thun. Heute Abend findet ein Match statt: Der EHC Thun spielt gegen den SC Lyss. Dann ist er damit beschäftigt, die Tore zu fixieren, das Eis sauber zu halten, Löcher auszubessern und während der Spielpausen für Ordnung zu sorgen. Seine Einsätze auf der Eisbahn kann er jedoch an einer Hand abzählen. Er ist bei der Stadt Thun im Jahresarbeitszeitmodell angestellt: Der Hauptteil der Arbeit fällt in der Sommersaison an, wenn er als Bademeister im Flussbad Schwäbis für die Sicherheit der Badegäste und den Unterhalt der Infrastruktur zuständig ist. Allerdings nicht mehr lange. Im Juni feiert Jimmy seinen 65. Geburtstag, dann geht er in Pension.
Die meisten Leute wüssten gar nicht, dass er eigentlich Martin heisse, lacht er. Schon im Kindergarten und später in der Schule wurde er Jimmy genannt. «Woher der Name kommt, kann ich nicht mehr rekonstruieren», lacht er. Auch seine Eltern nannten ihn mal Jimmy, mal Martin.
Mit seinem braun gebrannten Gesicht, das kaum Falten aufweist, seinem Trucker Cap und seiner sportlichen Kleidung, die seine Leidenschaft verrät – Sport –, wirkt er locker zwanzig Jahre jünger.
Schon als Kind hat er sich gerne bewegt. Aufgewachsen ist er mit drei Geschwistern an der Nünenenstrasse. «Zwischen den Blocks der verschiedenen Wohnbaugenossenschaften haben wir als Kinder im Winter jeweils Eishockey gespielt», erinnert sich Jimmy. Er gilt als begnadeter Schlittschuhläufer. Im September drehe er an freien Tagen jeweils morgens eine Runde auf dem Eis, bevor er im Flussbad Schwäbis in die Aare springe, erzählt er lachend.

Bewegungsmensch und Snowboard­pionier
Als 16-Jähriger nahm der Sportbegeisterte an Waffenläufen teil, was heute vielleicht etwas seltsam anmute. In den 70er-Jahren war Ausdauersport allerdings sehr beliebt. Die Teilnahme an Waffenläufen galt als besondere Auszeichnung. Mit 23 Jahren kaufte er sich schliesslich sein erstes Snowboard, ein Sims von Tom Sims, inspiriert von einem Besuch in Interlaken, wo er ein solches Sportgerät erstmals erspäht hatte. Pioniere wie Tom Sims und Jake Burton Carpenter, Gründer von Burton Snowboards, brachten damals die Sportart voran. Jimmy erinnert sich an eine Begegnung mit amerikanischen Touristen in den 80er-Jahren, als diese in Saas-Fee wissen wollten, ob es oben auf dem Berg einen See gebe, auf sein Snowboard deutend. Snowboarden sei auf vielen Pisten gar verboten gewesen, da die Snowbaorder eine Gefahr darstellten. Bis man die Sportart einmal beherrscht habe, sei man viel am Pistenrand gesessen, das Snowboarden beanspruchte die Beine. «Snowboarden bedeutete damals Freiheit, es war etwas ganz Neues», erinnert sich Jimmy Gilgen. Zusammen mit einem Freund leitete er damals die Snowboardgruppe im Rahmen von Skilagern auf der Elsigenalp. Den Gipfel des Booms erreichte der Snowboardsport um die Jahrtausendwende und wurde schliesslich durch den Carving-Trend abgelöst.
Dieses Jahr sei er nie auf der Piste gewesen, resümiert Jimmy. Der Sport ist teuer geworden, und um die Ecke, an der Industriestrasse in Thun, hat er gleich einen Skatepark vor der Haustüre, eingerichtet vom Verein «Roll & Rock», den er zusammen mit Gleichgesinnten vor 20 Jahren ins Leben gerufen hatte. «Skateboarden kostet nichts, man kann auch bei Winter und Regen fahren.» Aus­serdem sind in den letzten zwölf Jahren in der Schweiz viele Anlagen und Parks entstanden. «Auch die Stadt Thun machte viel für die Skateboardszene», so Jimmy. Das Skateboarden hat er erst nach dem Snowboarden entdeckt – und dann kam schliesslich das Surfen, vielleicht seine grösste Leidenschaft. An der baskischen Atlantikküste in San Sebastián schaute er zum ersten Mal zusammen mit einem Freund Surfern zu, die mit ihren Mofas angefahren kamen, in den Neoprenanzug stiegen und sich in die Wellen stürzten. «Das war wie Snowboarden und Skaten, aber noch intensiver mit den Naturkräften verbunden.» Das wollte er auch machen.

Gesundheit und Freiheit statt bürgerlicher Lebensweise

Ein schwerer Schicksalsschlag sollte Jimmy Gilgens Lebensweg prägen. Anfang der 90er-Jahre bewarb er sich bei der Kapo Bern für die Ausbildung zum Polizisten. Diese riet ihm, zuvor ein Welschlandjahr zu absolvieren, um seine Französischkenntnisse zu vertiefen. Daraufhin bewarb er sich bei den SBB für die Ausbildung zum Lokführer. Im Rahmen der Bewerbung entdeckten die Ärzte bei einer medizinischen Abklärung einen Tumor im linken Thoraxbereich. Einen Monat später unterzog sich Jimmy einer Operation – und seither ist er glücklicherweise gesund geblieben. Die lebensbedrohliche Situation lehrte ihn, Gesundheit als höchstes Gut zu schätzen – und das Lebensglück nicht von einer Festanstellung abhängig zu machen. Er verzichtete daraufhin auf ein sicheres Einkommen und ein bürgerliches Leben und setzte stattdessen auf Freiheit. «Man sollte im Leben seinen Interessen folgen, das heisst allerdings nicht, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.»
Kurz darauf ging es ab nach Mallorca. Eine Zürcherin, die im Süden Mallorcas, in Colònia de Sant Jordi, ein Hotel führte, war auf der Suche nach einem Guide für Biketouren. Ein Freund, der in Zürich einen Fitnessclub unterhielt und der von Jimmys Bikeleidenschaft wusste – auch Biken ein Sport, der ihn mit den Elementen verbindet –, stellte den Kontakt zwischen der Hotelbesitzerin und Jimmy her.
Eine Woche nach dem ersten Telefongespräch sei er bereits auf der Insel gewesen, lacht er. Die erste Tour verlief harzig, ausgestattet mit einer dürftigen Karte eines Reiseführers. Abends habe er sich im Hotel beschwert, dass er mit dieser Karte nicht arbeiten könne. Am Abend sei ein Militärjeep vorgefahren und der Fahrer habe ihm eine Karte im Massstab von 1:12 000 überreicht. Darauf sei jeder Weg ausgewiesen gewesen. Nun konnten die Touren beginnen. «Die Leute waren begeistert. Im Frühling, wenn die Mandelbäume blühten, glich die Insel einer Schneelandschaft», schwärmt Jimmy.
Von 1992 bis 1999 verbrachte er schliesslich je 180 Tage im Jahr in Kalifornien, um zu surfen und Englisch zu lernen. Mit der Referenz von Christian Josi, damals Chef des Führungsstabes der Schweizer Armee, dessen Fahrer er war, erhielt er ohne Probleme eine Aufenthaltsbewilligung in den Staaten. Aus­serdem war Jimmy damals schon im Besitz des Rettungsschwimmer-Brevets; Life Guards, Feuerwehrleute und Polizistinnen und Polizisten verfügten damals in Kalifornien über einen besonderen Status und kamen als erste Berufsgruppe in den Genuss einer Rente.
Um die Jahrtausendwende folgten Aufenthalte in Bali, wo er zum ersten Mal mit einer Digitalkamera unterwegs war. Fotografieren ist neben dem Sport eine weitere Leidenschaft von Jimmy Gilgen. Mit einer Canon-Powershot-G15-
Kompaktkamera macht er berückend schöne Bilder. Dabei hält er Impressionen seiner Reisen fest, er rückt die Natur ins Zentrum seiner Beobachtungen. So sehr er das Reisen liebt, so sehr ist er mit seiner Heimatstadt Thun verbunden. So ist beispielsweise die Stockhornkette ein wiederkehrendes Motiv seiner Bilder. Die kreischenden Möwen in der Luft muten fast schon surreal an. Und das Flussbad Schwäbis nach einem grossen Gewitter erinnert an eine Grossstadt. Sein Blick ist der Blick eines Vielgereisten, der dem Altbekannten etwas Neues hinzuzufügen weiss.

Vom Surfer zum Bademeister

2002 trat er schliesslich seine erste Stelle als Bademeister bei der Stadt Thun an. Vorher absolvierte er fast 10 Saisons im Strandbad Hünegg in Hilterfingen. Er liebt seinen Job als Bademeister: «Der Job ist vielfältig. Man kann draussen sein und Zeit mit Leuten verbringen», so Jimmy, «auch nach der Arbeit kommen die Leute auf einen zu.» Wer mit Jimmy Gilgen unterwegs ist, stellt bald fest, dass es kaum jemanden gibt, der ihn nicht kennt. Ständig ruft ihm jemand ein «Hallo» zu.
Neben seinen sportlichen Aktivitäten begleiteten Jimmy all die Jahre auch die Kadetten. 1972 trat er den Kadetten bei, was historisch bedingt eigentlich nur den Schülern der Progymatte vorbehalten war. Die Kadetten sind die Hauptträger des jährlichen Thuner Ausschiessets, eines dreitägigen Fests, das traditionellerweise im September mit Umzügen der Kadetten, angeführt vom Fulehung, Kadettenkonzert und Armbrustschiessen die Schützensaison beschliesst. Mit der Promo­tion 1975 trat er aus dem Kadettenkorps aus. Schliesslich vertrat er den Tambourenleiter elf Jahre lang, wenn dieser als Berufsfeuerwehrmann der Stadt Bern ausrücken musste. Bis heute wartet und stimmt er im Hintergrund die Instrumente der Tambouren. Selbst spielt er zweimal in der Woche auf dem «Böckli», «um geistig fit zu bleiben».
Jimmy Gilgen hat nie an seinem Lebensweg gezweifelt. Nur manchmal hadert er mit dem Alleinsein, jetzt, wo er nicht mehr so oft in den Ausgang geht wie früher und Treffen mit Freunden im Zuge von Social Media weniger geworden sind. Durch seine drei Geschwister hat er jedoch auch Einblick in die Freuden und Bürden der Elternschaft bekommen und seine Nichten und Neffen auf ihrem Weg begleitet. «Familie und Freiheit, beides zusammen kann man halt nicht haben», meint er.
Und was hat er nach seiner Pen­sionierung vor? Er habe keine grossen Projekte, «wobei, doch: Ich will mir ein GA kaufen und die Schweiz erkunden. Ich bin weit gereist, aber die Schweiz kenne ich kaum.» Und: «Gesund bleiben ist das Wichtigste, schliesslich steht und fällt
alles mit der Ge­sundheit.»




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