Weitere Artikel von Sonja Laurèle Bauer
Wunder
Eigentlich impliziert diese Frage genau drei Wunder. Erstens: Ein fremder Mensch spricht einen an. Zweitens: Dieser Mensch fragt nach der Uhrzeit. Drittens: Es fühlt sich für den Fragesteller wie auch für die Gefragte völlig normal an – wir sind etwa im gleichen Alter.
Dass ein fremder Mensch einen anderen fremden Menschen anspricht, ist für manche Menschen, oft sind es Jugendliche, undenkbar geworden. Wobei sie es, sollte es doch geschehen, wohl eher als ein kleines Erdbeben denn als Wunder empfinden.
Ich habe dies nach diesem Ereignis in jüngster Vergangenheit ein paarmal ausprobiert und junge Menschen unvermittelt nach dem Weg gefragt. Manche waren verdattert, kriegten ihre Kopf-hörer kaum aus dem Ohr, sofern sie es überhaupt versuchten. Andere nestelten
an ihrem Handy herum, um die Antwort dort zu finden, bevor sie überhaupt aufblickten, um zu eruieren, wo sie sich geografisch gerade befanden. Einige fragte ich nach der Uhrzeit. Niemand unter 40 blickte auf die Uhr, alle auf ihr Handy.
Viele von den Jungen, liest man heute, könnten kein Telefonat mehr führen, da sie es im SMS-Zeitalter nie gelernt und Angst davor hätten. Niemals würden sie jemand Fremden auf der Strasse ansprechen und reagierten irritiert, wenn sie von einem fremden Menschen angesprochen würden. Sie müssen auch nicht mehr mit Fremden sprechen. Sie müssen sich nicht mehr auf das anstrengende Sich-auf-jemanden-Einlassen einlassen. Denn Handy respektive KI kennen alle Antworten. Auch auf die Fragen, die sie nicht haben. Denn dafür müssten sie sich auf das Denken einlassen. Aber wie das, wenn es keine Minute gibt, in der das Gehirn sich vom digitalen Overflow ausruhen könnte? Wenn kein Gedanke mal einfach so kommen kann? Kein Prozess stattfindet, der die Synapsen verknüpft. Denken braucht Raum und Energie, keine ewige Konsumation. Diese armen, erschöpften Gehirne des fliehenden Jahres 2025!
Im KI-Zeitalter wird das nicht besser werden. Der Literaturprofessor Philipp Theisohn erklärt es im Interview mit Alexandra Kedves (Ausschnitt: «Der Bund», 28. Oktober; sehr empfehlenswert) so: «Der Mensch kommt zu Erkenntnissen, wenn er sich formulierend mit der Wirklichkeit auseinandersetzt. KI hingegen simuliert Verstehen.» Und: «Der Horizont der Geisteswissenschaften ist die Erfahrung des Nichtverstehens. Die Lücke, die sich zwischen dem eigenen Standort und dem nicht verstandenen Gegenstand auftut: Die gilt es auszubuchstabieren. Die gesellschaftliche Gefahr von KI hat mit dieser Lücke zu tun: dass wir unser Nichtver-stehen einfach maschinell überschreiben lassen, weil die Maschine es wohl besser wissen wird, denn immerhin hat sie auf alles eine Antwort.» Ja, das ist brandgefährlich.
«Wir brauchen Herausforderung und Lämpe»
Zwischen dem Oberland und der Karibik
Giovanni
Er lacht nicht. Er schmunzelt nicht. Er ist freundlich und abwesend zugleich. Und er spricht alle an, die am Strand über den schmalen Holzsteg und am Restaurant, für das er arbeitet, vorübergehen. Er fragt auf englisch, woher man komme und wechselt sofort in die Landessprache der Gefragten. Er erzählt, dass er Giovanni heisse, weil seine Eltern Italiener seien, dass er zwei Kinder habe, die er während der Saison nicht gesehen habe und es tue ihm leid, dass auf der Insel, auf der wir einander begegnen, so viel Müll liege, wo doch das ägäische Meer so klar und hellblau sei. Wie viel Müll die Touristen verursachen, sagt er nicht. Nur, dass heute die Fähre nicht weiterfahre, wegen des Windes und dort drüben, dort sitze wieder die ältere, einsame Frau aus der Schweiz, schaut mal, sie wartet jeden Abend herausgeputzt auf eine mögliche Liebe, die nicht kommt. Ich denke an «Griechischer Wein» von Udo Jürgens und dass es damals die griechischen Gastarbeiter in der Schweiz waren, die ihre Familien vermissten und deren Herzen voller Heimweh waren. Er freue sich auf seine Familie, sagt Giovanni. Trotzdem, die Leute hier, die werde er vermissen.
Das Restaurant, vor dem Giovanni animiert, ist stets voll. Von weitem schon ruft er den Gästen, die er ein, zwei Tage zuvor kennengelernt hat, ihre Namen entgegen. Er weiss sie alle. Spricht mit denen portugiesisch und mit jenen russisch. Antwortet in Spanisch, Französisch, Schweizerdeutsch. Da kommen die Israelis, sagt Giovanni. Und ja, tatsächlich, die spricht er in Hebräisch an. Giovanni, wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?
Japanisch will ich noch lernen, sinniert er und schaut mich an: Elf. Aber nur neun fast perfekt und zählt sie auf. Zwei muss er noch vertiefen: Russisch und Chinesisch. Wie ist das möglich? Ich lerne jeden Tag mindestens ein neues Wort. Seit vielen Jahren. Ich mache das einfach für mich. Giovanni, du wärst der perfekte Protagonist in einem Film. Ich könnte das in den Sozialen Medien machen, überlegt er. Als Komiker. Der nie lacht, denke ich. Giovanni, du würdest reich dabei. Er schaut mich an. Vielleicht. Aber ich mag das Internet nicht.
«Deine Mama kommt nicht wieder»
Narzissmus • Noch vor drei Jahren konnte Judith Gysmann nicht darüber sprechen: über die leidvolle Zeit, die sie und ihre Tochter Nele und ihre Zieh-söhne Alexander und Lukas mit deren narzisstischen Vater, respektive Judiths damaligem Partner, erleben mussten. Judith Gysmann heisst in Wirklichkeit anders, so wie auch ihre Tochter und die Söhne. Sie möchte, um sich und ihre Kinder zu schützen, ihre richtigen Namen und den Wohnort – sie lebt in der Region – nicht bekannt geben.
«Ich denke weder in Kulturen noch in Religionen»
Thun/Gaza • Urs Marc Eberhard war Sekundarlehrer und während vieler Jahre IKRK-Mitarbeiter. Darunter waren zig Einsätze im Nahen Osten. Eberhard kennt die Menschen dort. Und zwar auf beiden Seiten und aus verschiedenen Kulturen. Neben Deutsch spricht er Französisch, Italienisch, Englisch, ein bisschen Spanisch und Arabisch. «Die Menschen im Nahen Osten haben kaum eine Chance auf Frieden», sagt er, der vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde.
«Wir haben uns ein riesiges Problem eingehandelt»
Chemie im Wasser • Dr. Klaus Lanz ist Gründer und Leiter des unabhängigen Instituts «international water affairs». Als Chemiker, Wasserforscher und Publizist befasst er sich seit über 30 Jahren mit Wasserthemen. Nun ruft er zu dringendem Umdenken im Umgang mit Wasser auf. Dafür spricht er Klartext.
«Sei wachsam»
Demokratie heisst, miteinander zu sprechen, Gespräche zu führen. Aber auch, andere Meinungen auszuhalten. Jedenfalls bis dahin, wo diese die Grenze der Integrität überschreiten. So, dass wir eingreifen müssen: Bei Rassismus, Antisemitismus, Gewalt. «Wir fragen zu schnell nach den Grenzen der Toleranz», sagt der Philosoph Jürgen Wiebicke, in «reformiert.». Auch ich bin der Meinung, wir sollten diese Grenze weiter stecken, damit wir uns nicht so schnell, wie es heute modern ist, über Kleinigkeiten empören müssen. Ganz im Gegensatz zu Elementarem, bei dem wir mehr und mehr feige still bleiben. Ich halte es mit Reinhard Meys altem Lied «Sei wachsam, fall nicht auf sie rein! Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt. Sei wachsam; merk dir die Gesichter gut. Sei wachsam, bewahr dir deinen Mut und sei auf der Hut!» Mey bezieht sich auf oben genannte Themen, bei denen die Grenzen der Integrität massiv überschritten werden: Krieg, Verfolgung, Rassismus – wie sie im Gaza geschehen.
Warum müssen wir aushalten, wie die israelische Armee im Auftrag von Netanjahu und seinen rechten Schergen einen Krieg vor allem gegen Kinder führt?! Dagegen aufzustehen heisst nicht gleichzeitig, antisemitisch zu sein! Wer steckt hier die Grenzen der Toleranz? Längst schon wird unsere ureigene Integrität verletzt, während unsere Regierung wartet und zuschaut, bis alle Menschen im Gaza getötet und vertrieben sind?! Auch kleine Schritte hälfen: Palästina als Staat anzuerkennen! Ein Statement, wie es Politikerinnen und Politiker in einigen Ländern längst
wagen. Endlich Rettungsaktionen für Palästinenser durchzuführen! Prioritäten setzen, ohne zu fürchten, man
könnte in jemandes Gärtchen treten, während Häuser und Herzen anderer von Bomben zerrissen werden.
Die Sonderberichterstatterin Francesca Albanese spricht Klartext zum Gaza-Mord: «Guys, have you lost your mind?»: Sie verurteilt das Verbrechen vom 7. Oktober in Israel, weil es abscheulich ist, sie verurteilt aber auch den Massenmord im Gaza – während sich die israelische Regierung über die Welt lustig macht, weil diese dabei nur zusieht. So sagte einer von Netanjahus rechtsextremen Partnern, der dafür ist, den ganzen Gaza einzunehmen und die Palästinenser von dort zu vertreiben, öffentlich: «Solange die Welt zuschaut, was wir hier machen und nichts dagegen tut, machen wir weiter.» Ist das noch zum Aushalten?! Kann es wirklich sein, dass sich der Schweizerische, gewaltfreie Widerstand, den ich unterschreibe, darauf beschränkt, vor dem Fernseher ein Bier zu trinken? Und sich die Empörung der Mitmenschen allein auf die Demonstrierenden in Bern konzentriert, die diese Ohnmacht nicht mehr ertragen? Echt jetzt?!
Notabene: Wenn ehemalige Pazifisten sagen, Pazifismus sei nicht mehr zeitgemäss, nur, weil sich der Krieg heute für sie näher anfühlt, dann muss ich mich über diesen Verrat fremdschämen. Aber mehr noch darüber, dass wir Schweizer feige und Haltungs-frei beim Mord im Gaza zusehen.
«Als Kind faszinierte mich das Verbeugen»
Puppentheater Chnopf • Marco Schneiter und Fabio Tresch verbindet ihre Profession, die auch ihre Leidenschaft ist: das Figurentheater. Marco Schneiter ging in Spiez zur Schule und lebt heute in Thun. Seit seiner Kindheit ist er fasziniert vom Theater, das ihn seit 45 Jahren begleitet.
Raphael Lanz: «Ich lese Esther Pauchard»
Ehrung • Im Namen des Gemeinderats von Thun überreichte Stadtpräsident Raphael Lanz der Psychiaterin, Schriftstellerin und Referentin Esther Pauchard den Thunpreis für ihre Vermittlungsarbeit.