Wie wir die Emotionen in uns anlegen: So reagiert unser Kopf
Thun • Edith Loosli wurde am 11. Februar 92 Jahre alt – und schrieb gerade ein Buch, das so wichtig ist, dass wir es vorstellen. Gemeinsam mit der Autorin, die sich 25 Jahre lang gegen das Fangen von Zugvögeln auf Zypern einsetzte. Ihr bevorzugtes Gebiet heute: Primatologie und Verhaltensforschung nach Frans de Waal. Ausserdem ist die ehemalige Lehrerin überzeugt, dass sie bis anhin so gesund alt wurde, weil sie seit 30 Jahren weder Fleisch isst noch Milch trinkt.

«Wut. Destruktive Aspekte und der Ausweg» heisst das Sachbuch mit autobiografischem Rahmen, das Edith Loosli aus Thun gerade bereits in der zweiten Auflage herausgab. «Wenn nur eine Person, die von Wut betroffen ist, mein Buch liest, so ist es schon nicht umsonst erschienen», sagt die 92-jährige Autorin. Dass das Buch breit Anklang finden muss, weil es hochinteressant, lehrreich und wichtig ist – gerade in der heutigen Weltlage –, steht ausser Frage: Denn es geht ums Helfen.
Emotionen als Thema der Zukunft
Edith Loosli wuchs mit zwei Brüdern auf, die beide in die Kategorie der «Wüteriche» gehören. Die ruhige, aber selbstsichere, da selbstbestimmte Frau hat ihre Brüder überlebt. «Ich habe diese Wut zum Glück nicht geerbt», so Loosli. Denn dass sie vererbbar ist, davon ist sie nach dem Selbststudium in Bezug auf Primatologie und Verhaltensforschung nach Frans de Waal überzeugt. «Doch man kann etwas dagegen tun. Man muss diese Wut nicht einfach hinnehmen.» Loosli spricht nicht von der selten auftretenden Wut aufgrund eines Ereignisses. Sie spricht von Menschen, die Sklaven der Wut sind. «Mein Bruder warf bereits als Kind mit Gegenständen um sich. Er hatte eine Art Grund-Wut in sich.» Vielleicht würde man heute davon sprechen, dass diese Menschen ins ADHS-Spektrum gehören. Oder dass es enttäuschte Narzissten seien. In ihrem Buch widmet Loosli diesen Verhalten ein Kapitel. Doch hauptsächlich geht es ihr nicht um das Bezeichnen verschiedener Verhaltensgrundlagen. Sie schubladisiert die Wut nicht, sondern spricht sie offen an, als das, was sie ist: der Feind, der von Wut betroffene Menschen und ihr Umfeld in der Freiheit beschneidet und leiden lässt. Den es zu bekämpfen gibt. Und sie tut dies mit erfrischend klaren Worten. Mit gesundem Menschenverstand, mit einer Herzensklugheit und einem grossen Intellekt. Und vor allem mit einer sachlichen Klarheit, wie sie heute der Populärpsychologie oft abgeht. Ihrer Lebenserfahrung sei Dank. Es geht um Emotionen. «Emotionen werden ein Thema der Zukunft sein», ist sie überzeugt. «Die Forschung wird sich ausführlich mit menschlichen Emotionen beschäftigen. Allerdings auch mit tierischen.» Und genau diese weiss die Autorin durch eine sachliche Sprache besonders zu beleuchten. Wäre der Ton ein jammernder, das Ziel würde verfehlt.
Doch Loosli ist ein Talent. Eine Person, die aus dem Vollen schöpfen kann. Ein mit Wissen und Lebenserfahrung gefüllter Mensch, der sich Jahrzehnte zurückerinnern kann. Der auf fast ein Jahrhundert Weltgeschichte und Entwicklung zurückblicken kann. Wer sollte davon nicht profitieren?!
Ohne Respekt geht es nicht
Um ein Verhalten zu ändern, brauche es Selbstdisziplin. «Wir sollten bereits unsere Kinder lehren, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen.» Wesentlich dabei sei, darauf zu achten, wie man miteinander umgehe. «Ohne Respekt geht es nicht.» Wichtig sei, «dass man die Emotionen innerlich bearbeiten kann». Dass man ein Verhalten konditionieren könne, indem man es übe. Zurückhaltung sei lernbar. Looslis Buch zeigt auf, wie dies gelingen könnte. Gelassen fügt sie an: «Ein gewisses Verhalten kann man nicht in kurzer Zeit verändern. Doch wir können daran arbeiten, das zurückhaltende Verhalten konditionieren. Dann ergibt es sich mit der Zeit. Alle können es lernen. Auch unsere Kinder werden es lernen.» Ein Kind muss sich selbst erziehen, seine Emotionen kontrollieren lernen.
Mit dem Computer auf dem Sofa
Seit gestern habe sie Rückenschmerzen, sagt Edith Loosli der Besucherin. «Wahrscheinlich, wegen diesem Ding da.» Sie deutet auf den Computer. «Ich sitze drum oft auf der Coach und halte ihn auf dem Schoss.» Man will und kann kaum glauben, dass Loosli, die einst das staatliche Lehrerseminar in Thun absolvierte und sich danach an den Universitäten Bern und Caen in Frankreich zur Sekundarlehrerin weiterbildete, und diesen Beruf ein Berufsleben-lang ausübte, mit 92 Jahren noch auf dem Sofa sitzt, den Computer auf dem Schoss und tippt, ausserdem rumläuft wie ein – nein kein junges, aber gesundes, behändes Reh. Trotzdem: «Es war der erste Geburtstag meines Lebens, den ich im Bett verbrachte», sagt sie, weil ihr der Rücken einen Streich spielte.
Edith Loosli wohnt in einem hellen Mehrfamilienhaus in einem schönen Quartier in Thun. Im obersten Stock. Nein, dort gibt es keinen Fahrstuhl. Die alte Dame nimmt die Treppen agil und sicher. Doppelt so viele Treppen wie Stockwerke sind es. Natürlich ohne Gehhilfe.
Das Leben ist ein Selbststudium
Und sie liebt Tiere, die Katze ist ihr als freiheitsliebendes und doch verlässliches Wesen am nächsten. Sie selbst sei viele Jahre allein durchs Leben gegangen. «Doch ich bin glücklich.» Nie habe sie «krampfhaft» nach einem Partner gesucht. Zwar sei sie verliebt gewesen, doch der Mann habe sie nach 15 Jahren Liebe durch unerwartete Feigheit enttäuscht. «Danach habe ich keine Liebesgefühle mehr in jemanden investiert.» Ihr sei nie langweilig. «Ich habe meine Bücher.» Und: «Für mich ist das Leben selbst ein Studium. Ich war bis anhin mein Leben lang in der Lehre. Ich habe immer etwas zu tun.»
Starke Frauen
Ihre Mutter habe sie zu der starken Frau gemacht, die sie sei. «Ich habe ihren Mut geerbt.» Obwohl die kleine Edith die erste in der Familie gewesen sei, die eine höhere Bildung genossen habe. Sozialisierung, Kultur, Vererbung: Diese Themen beschäftigen die ehemalige Lehrerin von jeher. «Noch während des Zweiten Weltkriegs dachte man, dass man Kinder strafen muss, um sie richtig zu erziehen. Dabei muss sich das Kind selbst erziehen. Denn: Wie wir die Emotionen in uns anlegen, so reagiert unser Kopf.» Sie präzisiert: «Eltern müssen sanft mit ihrem Kind umgehen. Damit es seine Emotionen spüren kann. Damit es sich selbst richtig erziehen kann. Denn was man dem Kind von aussen aufzwingt, das wird es nicht hereinnehmen. Das bringt nichts.» Erlebten Kinder Schlimmes, kämen sie schwer davon los.
«Wir brauchen mehr Matriarchat»
«Wir brauchen ein Matriarchat wie es die Bonobo-Primaten vorleben», davon ist Edith Loosli überzeugt. Manchmal halte sie es kaum aus, wenn sie in die Welt blicke. Diese Kriege! Die Situation im Gaza! «Das sind Männerkriege. Frauen, weniger machtorientiert, würden sie eher verschwinden lassen. Weltweite Abrüstung und Frieden wären die Folge.»
Zugvögel wollen ziehen
Als Edith Loosli um die 60 Jahre alt war, machte sie Ferien auf Zypern. Eines Morgens, sie wollte spazieren gehen, sah sie eine Reihe geparkter Autos mit offenem Kofferraum. «Darin standen Kübel voller halbtoter Vögel.» Das sei ein Schock gewesen. «Ich konnte nicht mehr schlafen.» Loosli erzählt pragmatisch, die erlittenen Gefühle sind nicht mehr hörbar, nur noch fühlbar. Sie erzählt von Leimruten in den Bäumen, Ruten, die mit Leim bestrichen und in jene Bäume gehängt wurden, auf denen die Zugvögel Halt machten. «Sie hingen daran wie Früchte am Baum. Die Menschen dort mussten sie nur noch ablesen. Mit der blossen Hand drehten sie ihnen den Kopf um, oder schnitten ihnen mit einem Messer die Kehle durch.» Doch Edith Loosli wäre nicht Edith Loosli, wenn sie nichts dagegen getan hätte: «Ich mobilisierte Menschen, wir suchten die Gegend ab und entfernten die Leimruten. Die Vögel säuberten wir.» Jene, die nicht mehr fliegen konnten, weil sie so voller Leim waren, behielt sie so lange bei sich, bis sie ganz sauber waren, und liess sie fliegen. «So konnten wir viele Tiere retten.» 27 Jahre lang flog Edith Loosli nach Zypern, im Frühling und im Herbst jeweils zwei Monate, und befreite Zugvögel. Zwar gebe es ein internationales Abkommen, das Zugvögel schütze, doch leider hätten sich die Zyprioten nicht daran gehalten. Aus lauter Ohnmacht habe sie Angela Merkel geschrieben. Es sei keine Woche vergangen, «da meldete sich die deutsche Botschafterin in Zypern und bot die schweizerische und die italienische Botschafterin auf, die zum Justizminister gingen. Merkels Regierung ging auf mein Schreiben ein und unternahm alles, um uns zu unterstützen.» Heute sehe man den Zugvogelfang nur noch selten. Auch, da ihr Engagement Wellen schlug. Und: «Ich kenne sämtliche Vogelstimmen, kann sie unterscheiden.»
«So gesund wie ich es bin!»
Seit 30 Jahren ist Edith Loosli Vegetarierin. Sie schmunzelt. «Deshalb bin ig no so gut zwäg.» Der Besucherin, auch eine Vegetarierin, sagt sie: «Sie werden es beim Älterwerden merken. Sie werden gesünder altern und gesünder sein.» Man könne ohne Weiteres ohne Fleisch leben. Vielleicht dauere es eine Zeit lang, wo man sich nach einem Kotelett oder so sehne, «aber das vergeit». Heute könnte sie kein Fleisch mehr essen. Proteine nehme sie genügend zu sich. «Ich trinke keine Kuhmilch mehr, dafür Sojamilch, esse Linsen und anderes. Wie sonst kann man so gesund sein, wie ich es bin?»
Edith Loosli: Wut. Destruktive Aspekte und der Ausweg.
Illustration und Bilder: Edith Loosli
1. Auflage 2023.
164 Seiten.
ISBN 978-3-033-10071-8;
28 Franken (freier Preis); Lieferung garantiert.