«Die Mär vom Grasland Schweiz»
Die meisten Menschen haben kaum noch Berührungspunkte mit der Landwirtschaft, doch das Thema ist aktueller denn je. Auf der einen Seite das nach wie vor weitverbreitete Ideal einer Landwirtschaft, die sich durch grasende Kühe und familiäre Betriebe auszeichnet; auf der anderen Seite der immer weiter zunehmende Reformstau und die Tatsache, dass die Schweizer Landwirtschaft seit Jahren fast alle ihre Nachhaltigkeitsziele verfehlt. Auch beim Tierwohl hat die Landwirtschaft – trotz vermeintlich bestem Tierschutzgesetz der Welt – grossen Nachholbedarf. Das zeigt sich sinnbildlich an der Frage, wie viele Tiere im «Grasland Schweiz» überhaupt nach draussen dürfen. Gemäss offiziellen Zahlen sind es 78 Prozent.
Dass diese Zahl nicht stimmen kann, wird spätestens beim Blick auf die Schlachtzahlen klar. 2023 wurden in der Schweiz rund 83 Millionen Tiere geschlachtet. Fast 80 Millionen dieser Tiere waren Masthühner. Und seien wir mal ehrlich: Wer hat das letzte Mal ein Masthuhn im Freien gesehen? Tatsächlich haben gerade einmal 13 Prozent aller Tiere in der Schweizer Landwirtschaft Zugang ins Freie. Doch wie ist das möglich?
Erstens: Tierbestände werden an einem Stichtag berechnet. Tiere, die weniger als ein Jahr leben, tauchen nur dann in der Statistik auf, wenn sie nicht vorher getötet werden oder erst danach in die Mast kommen. Vor allem die Zahl der Masthühner wird dadurch massiv unterschätzt. Zwar leben in der Schweiz «nur» rund 12,5 Millionen Masthühner, doch weil Masthallen bis zu siebenmal im Jahr neu besetzt werden, werden über 65 Millionen Hühner nicht mitgezählt. Auch Schweine, Rinder und Kälber, die nur wenige Monate leben, fallen durch diesen Trick aus der Statistik. Zweitens: Um auf die eingangs erwähnten 78 Prozent zu kommen, rechnet der Bund Tiere nicht als Individuen, sondern in sogenannten Grossvieheinheiten (GVE). Dabei wird das Gewicht einer Kuh als Massstab genommen, und andere Tiere werden als Bruchteil davon gerechnet. So werden 6 Schweine oder 250 Masthühner einer erwachsenen Kuh gleichgesetzt. Besitzt eine Bauernfamilie 500 Masthühner ohne Auslauf und 2 Kühe, die auf eine Weide dürfen, bedeutet dies, dass (gemäss offiziellen Zahlen) 50 Prozent der Tiere auf dem entsprechenden Hof Auslauf haben.
Diese «Bauerntricks» ergeben betriebswirtschaftlich Sinn – GVE helfen etwa bei der Berechnung des Futtermittelbedarfs eines Hofs –, suggerieren aber ein Bild der Landwirtschaft, das schon lange nicht mehr der Realität entspricht. Die meisten Tiere verbringen ihr Leben auf Betrieben, die mit traditionellen Höfen sehr wenig gemein haben. Wollen wir an unserer Vorstellung der Schweiz als Grasland festhalten, ist es höchste Zeit für ein Umdenken. Weg von der industriellen Tierproduktion und zurück zu den Wiederkäuern, die die Landwirtschaft traditionell auszeichnen. Jedes Tier verdient es, ein würdevolles Leben zu führen.
Von Philipp Ryf, Geschäftsleiter von Sentience. Sentience setzt sich auf politischer Ebene für die Interessen von Tieren ein.