Kompromiss statt Polemik
In der Eingangshalle des Bundeshauses, oberhalb des linken Treppenaufgangs, befindet sich im Giebel eine Schrifttafel. Auf dieser steht geschrieben «Salus publica suprema lex esto», oder zu Deutsch «Das öffentliche Wohl sei oberstes Gesetz». Dieser Satz erinnert die Mitglieder von Parlament und Bundesrat an ihren wichtigen, verfassungsmässigen Auftrag als Vertreter der obersten Staatsbehörden der Schweiz.
Leider scheint die Wirkung dieser Inschrift zu verblassen. Die Lösung der Probleme unseres Landes ist ins Stocken geraten, und der Pendenzenberg wird immer grösser. Seit über zwanzig Jahren debattieren wir über unser Verhältnis zu Europa. Auch im vierten Kriegsjahr nach dem russischen Überfall der Ukraine hat der Bundesrat keine Strategie betreffend der erhöhten Bedrohungslage. Mindestens seit zwei Jahrzehnten steigen die Krankenkassenprämien unaufhaltsam. Wirksame Lösungen zur Dämpfung der Kostenexplosion im Gesundheitswesen sind nicht in Sicht. Seit Langem geht der Abbau des Service public der Post unkontrolliert weiter. Eine klare Definition der postalischen Dienstleistungen in Zukunft existiert nicht. Die künftige Energieversorgung der Schweiz ist ungewiss, und den zunehmenden Auswirkungen der Klimaveränderung begegnen die politischen Entscheidungsträger ohne fundierten Plan.
Dies alles hat mit wesentlichen Veränderungen der schweizerischen Politik zu tun. Die für ein leistungsfähiges, öffentliches Wirken nötigen Handlungsgrundsätze wie Konkordanz, Kompromiss und Konsens werden zunehmend durch Polemik, Provokationen und
Polarisierung verdrängt. Politische Anfeindungen sind an der Tagesordnung, der Gegner wird mit Videobotschaften attackiert, man deckt sich gegenseitig mit Strafanzeigen ein oder streckt dem Kollegen im Ratssaal die Zunge heraus. Die Verrohung im politischen Umgang ist deutlich feststellbar. Die «verstärkte ideologische Polarisierung», die «gestiegene Konfliktualität» und der «aggressivere Konkurrenzkampf» sind auch wissenschaftlich belegt. So stellt der Politologe Adrian Vatter fest, «dass die Aushöhlung der schweizerischen Konkordanzdemokratie zu vermehrten Blockaden» führt.
Blockaden sind das Letzte, was aktuell in der nationalen Politik benötigt wird. Vielmehr ist entschlossenes Handeln gefragt. Erfolgreiches Politisieren mit zielführenden Entscheiden bedeutet Mehrheiten suchen und finden. Dies kann nur mit ernsthaftem Dialog und sachlich vertiefter Auseinandersetzung erreicht werden. Wer vor den Wahlen verspricht, sich für die Schweiz einzusetzen, ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wer nach den Wahlen mit Provokation und Polemik die Zusammenarbeit erschwert und verweigert, nützt dem Land nichts und ist im Bundehaus fehl am Platz!
Rudolf Joder ist ehemaliger Nationalrat, Fürsprecher und Präsident des Schweizerischen Verbandes für Seniorenfragen.