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Die Maus mit dem sechsten Sinn

In meiner Nachbarschaft wohnt ein betagter Witwer in einer kleinen Parterrewohnung. Nennen wir ihn Fritz. Fritz lässt an Herbstabenden gern die Gartentür offen, um die letzten Sonnenstrahlen hereinzulassen. So auch Ende Oktober vergangenen Jahres. Diese Gelegenheit ergriff eine Maus, um in die Wohnung zu gelangen. Fritz vernahm beim Abendessen seltsame Geräusche hinter dem Kühlschrank. Und ab und zu sah er etwas Dunkles vorbeihuschen. Da besorgte er sich Mause­fallen und befüllte sie mit Leckerbissen. Doch die Maus fiel nicht darauf herein. Im Gegenteil: Sie richtete sich direkt vor einer Falle ein Nestchen ein mit Schaumstoff vom Sofa. Später baute sie ein zweites Nest, ausgerechnet in einer Ecke von Fritzens Schlafzimmer. Fritz aber mochte die Maus bald nicht mehr missen; er fühlte sich jetzt weniger allein. Und er gab ihr den Namen «Speedy». Im Laufe des Winters wurde Speedy zutraulicher. So hüpfte sie sogar von einem Stuhl auf den Küchentisch, an dem Fritz sass und las. Sobald er sich aber bewegte, sprang Speedy mit einem Satz vom Tisch und verschwand blitz­artig in einer Ritze. Speedy gelang es, auf die Anrichte zu klettern, wo sie sich an Tomatenschalen und Brotkrumen gütlich tat. Einmal gelang es Fritz bei­nahe, Speedy zu überlisten, indem er zur Garderobe hin Ragusa-Bröcklein in einer Reihe auslegte. Die Maus ging tatsächlich den Bröcklein nach und Fritz verschloss, als sie draussen war, ganz schnell die Küchentür. Dann ging er ums Haus herum und öffnete die Haustür von aussen – von Speedy keine Spur. Weitere Vertreibungsversuche mit Duftessenzen wie Menthol fruchteten auch nicht. So liess Fritz die Gartentür wieder offen in der Hoffnung, dass Speedy von den verheissungsvollen Düften des Frühlings angezogen würde. Aber Speedy blieb ihm treu … Ich frage mich seither, weshalb die Maus die verschiedenartigen Fallen vermieden hat, und dies während Monaten, trotz aller möglichen ­Leckerbissen darin. Hat sich das Fallenvermeidungsverhalten inzwischen genetisch oder telepathisch unter den Mäusen im Aaretal verbreitet? Oder gibt es eine andere Erklärungsmöglichkeit? 

Nun ist Speedy weg! Anfang April hatte Fritz endgültig genug von ihr. Nach wie vor übernachtete sie in seinem Schlafzimmer. Fritz war nahe dran, Giftköder auszulegen. Doch dann ergab sich eine «humanere» Möglichkeit: Fritz dichtete sein Schlafzimmer vollständig ab und schloss stets die Tür, sodass Speedy nicht mehr hinauskonnte. Nach ein paar Tagen stellte er eine Falle auf und strich Nutella an den Kontaktdraht. Tatsächlich: Die Maus war dermassen hungrig, dass sie die Fallenangst überwand und hineinschlüpfte. Kaum hatte sie den Leckerbissen berührt, schnappte die Falle zu. Speedy versuchte verzweifelt, dem Gefängnis zu entkommen.
Vergebens. Durch den Lärm erwachte Fritz, stand auf, nahm die Falle mit der Maus, ging nach draus­sen, öffnete die Falle – und Speedy war mit einem Satz in der Freiheit! Erleichtert kehrte Fritz in die Wohnung zurück und hatte fortan seine Ruhe. Doch manchmal vermisst er Speedy. 

Peter Bieri war vor der Pensionierung während dreier Jahrzehnte als Redaktor und Informator in der Bildungsberatung tätig. Seither erzählt gern weiter, was er hört und erlebt.