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Wunder

Kürzlich geschah ein Wunder. Ich wurde auf der Strasse von einem Menschen angesprochen und – man höre und staune – nach der Uhrzeit gefragt. 

Eigentlich impliziert diese Frage genau drei Wunder. Erstens: Ein fremder Mensch spricht einen an. Zweitens: Dieser Mensch fragt nach der Uhrzeit. Drittens: Es fühlt sich für den Fragesteller wie auch für die Gefragte völlig normal an – wir sind etwa im gleichen Alter. 

Dass ein fremder Mensch einen anderen fremden Menschen anspricht, ist für manche Menschen, oft sind es Jugendliche, undenkbar geworden. Wobei sie es, sollte es doch geschehen, wohl eher als ein kleines Erdbeben denn als Wunder empfinden.

Ich habe dies nach diesem Ereignis in jüngster Vergangenheit ein paarmal ausprobiert und junge Menschen unvermittelt nach dem Weg gefragt. Manche waren verdattert, kriegten ihre Kopf-hörer kaum aus dem Ohr, sofern sie es überhaupt versuchten. Andere nestelten
an ihrem Handy herum, um die Antwort dort zu finden, bevor sie überhaupt aufblickten, um zu eruieren, wo sie sich geografisch gerade befanden. Einige fragte ich nach der Uhrzeit. Niemand unter 40 blickte auf die Uhr, alle auf ihr Handy. 

Viele von den Jungen, liest man heute, könnten kein Telefonat mehr führen, da sie es im SMS-Zeitalter nie gelernt und Angst davor hätten. Niemals würden sie jemand Fremden auf der Strasse ansprechen und reagierten irritiert, wenn sie von einem fremden Menschen angesprochen würden. Sie müssen auch nicht mehr mit Fremden sprechen. Sie müssen sich nicht mehr auf das anstrengende Sich-auf-jemanden-Einlassen einlassen. Denn Handy respektive KI kennen alle Antworten. Auch auf die Fragen, die sie nicht haben. Denn dafür müssten sie sich auf das Denken einlassen. Aber wie das, wenn es keine Minute gibt, in der das Gehirn sich vom digitalen Overflow ausruhen könnte? Wenn kein Gedanke mal einfach so kommen kann? Kein Prozess stattfindet, der die Synapsen verknüpft. Denken braucht Raum und Energie, keine ewige Konsumation. Diese armen, erschöpften Gehirne des fliehenden Jahres 2025! 

Im KI-Zeitalter wird das nicht besser werden. Der Literaturprofessor Philipp Theisohn erklärt es im Interview mit Alexandra Kedves (Ausschnitt: «Der Bund», 28. Oktober; sehr empfehlenswert) so: «Der Mensch kommt zu Erkenntnissen, wenn er sich formulierend mit der Wirklichkeit auseinandersetzt. KI hingegen simuliert Verstehen.» Und: «Der Horizont der Geisteswissenschaften ist die Erfahrung des Nichtverstehens. Die Lücke, die sich zwischen dem eigenen Standort und dem nicht verstandenen Gegenstand auftut: Die gilt es auszubuchstabieren. Die gesellschaftliche Gefahr von KI hat mit dieser Lücke zu tun: dass wir unser Nichtver-stehen einfach maschinell überschreiben lassen, weil die Maschine es wohl besser wissen wird, denn immerhin hat sie auf alles eine Antwort.» Ja, das ist brandgefährlich.