Die Kunst des (digitalen) Grüssens
dergestalt mit der Grussformel gespielt und variiert wie im E-Mail-Verkehr.
Wenn die Presseabteilung eines Verlags mich als Kulturjournalisten anfragt, ob ich ein Buch besprechen möchte, wird immer «herzlich» gegrüsst. Die ungeschriebenen Grussgesetze zeigen den Aggregatszustand der Beziehungen an. Da war zum Beispiel die Dame, mit der ich für ein Projekt zu tun hatte. Wir wechselten via E-Mail vom «Sie» zum «Du». Jede E-Mail in der Startphase schloss mit «Liebe Grüsse» oder «Herzliche Grüsse» oder gar nur mit «Herzlich».
Dann kamen die ersten Herausforderungen in Planung, Budgetierung und das liebe Geld. Hier begannen die ersten unterschiedlichen Ansichten und Arbeitsmethoden zum Vorschein zu kommen, also auch Meinungsunterschiede. Demgemäss schienen sich die Grussworte der Stimmungslage an-zupassen. Vom «Herzlich» mutierte es sich herunter auf «Beste Grüsse» und «Gruss». Wenn Kalter Krieg herrscht,
so liest man dann wieder «Freundliche Grüsse», der eisige Tiefstand in der
Austauschkultur.
In einem Comic würden an den Sprechblasen dann Eiszapfen hängen. Ich wollte es schon mit dem veralteten «Hochachtungsvoll» versuchen, aber das wäre eines zu viel aufgesetzt.
Wir hüpfen also heutzutage zwischen «Herzlichst», was ja schon eine Um-armung bedeutet, und dem Formalen, wo wir uns fast zwingen müssen, überhaupt zu grüssen. Ich stelle mir die Frage, was heutzutage Freundschaften – ausserhalb von Facebook – noch auszuhalten vermögen.
Als die Verhandlungen mit der oben erwähnten Kundin sich entspannten und es mit dem Projekt wieder vorwärts ging, erwärmte sich die Korrespondenz wieder von den «besten
Grüs-sen» über «sonnige Grüsse» über «liebe Grüsse» bis hin zurück zum «herzliche Grüsse».
Deshalb kann die bewusst gewählte Grussform einen Stimmungsbarometer über die Qualität der Beziehung darstellen. So misst der Empfänger das Betriebsklima, und der Absender kann sie steuern. Darum sei empfohlen, in der Signatur auf eine automatisch definierte Grussformel zu verzichten. Denn
wie liest sich das denn, wenn jemand herzlich grüsst, und unten über der
Absenderadresse steht dann nochmals «freundliche Grüsse».
Sie, liebe Zeitungslesende, werden sich nun fragen, wie ich mich hier aus der Kolumne verabschiede. Gute Frage. Da wir uns noch nicht so gut kennen, Sie und ich, versuche ich es mal mit fröhlichen Grüssen.
Der passende Buchtipp: «Duden Ratgeber: Briefe, E-Mails und Kurz-nachrichten gut und richtig schreiben», Ingrid Stephan, Cornelsen-Verlag, ISBN 978-3-411-74304-9.
Urs Heinz Aerni ist Journalist und Feldornithologe, der öfters im Berner Oberland unterwegs ist. Regelmässig interviewt er eine interessante Persönlichkeit im Hotel Beatus in Merligen. Die Talk-Reihe ist öffentlich.