Warum wir nicht zu allem eine Meinung haben müssen
Gerade auf digitalem Weg nutzen heute Millionen, wenn nicht sogar Milliarden von Menschen die Möglichkeit, ihre Meinungen zu allem Möglichen zu äussern. Das kann gesellschaftlichen Fortschritt erschweren. Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902–1994) beschäftigte sich jahrzehntelange mit Fragen darüber, wie verschiedene wissenschaftliche Methoden zu Erkenntnissen führen oder vor welchen Herausforderungen sie stehen. Vor allem die empirischen Wissenschaften haben es ihm angetan. Nicht nur, aber sicher auch wegen seiner Arbeit gewann die Empirie im 20. Jahrhundert weiter deutlich an gesellschaftlicher Bedeutung.
Farbige Schwäne
Der Empirismus ist eine Theorie darüber, wie Menschen zu Erkenntnissen gelangen. Der Kerngedanke des Empirismus besteht darin, dass Erkenntnisse nur über Erfahrungen möglich sind, konkret über Sinneseindrücke. Das wohl bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang sind Schwäne: Jemand geht an einem Seeufer spazieren. Die Person sieht einen weiss gefiederten Schwan. Die Person spaziert weiter und sieht einen nächsten Schwan. Auch dieser ist wieder weiss. Beim dritten, vierten und fünften Schwan ist es dasselbe. Aus diesen Sinneseindrücken aus Einzelbeobachtungen zieht die Person deshalb den Schluss oder stellt die Theorie auf, dass alle Schwäne weiss sind. Diese Art von Schlussfolgerung heisst induktiver Schluss beziehungsweise Induktion. Aber die Induktion hat ein grosses Problem, wie Popper anmerkt. Selbst wenn eine Person in ihrem Leben vierhundert Milliarden weis se Schwäne sieht, könnte irgendwo auf der Welt oder sonst irgendwo ein grüner oder blau-rot gepunkteter Schwan auf einem See schwimmen. Wenn der induktive Schluss das zentrale Überprüfungskriterium empirischer Wissenschaften sein soll, bräuchte es ein Prinzip, das den Stellenwert der Induktion rechtfertigt. An diesem Punkt werden Poppers Überlegungen etwas komplizierter. Um zu überprüfen, ob sich induktive Schlüsse bewährt haben, müssten über die induktiven Schlüsse selbst induktive Schlüsse gezogen werden: Wir müssten also verschiedene induktive Schlüsse anschauen und überprüfen, ob sie sich mehr oder weniger bewährt haben. Sofern das Ziel eine sichere Erkenntnis ist, bräuchte es wiederum einen induktiven Schluss über die induktiven Schlüsse über die induktiven Schlüsse. Die Geschichte ginge ins Unendliche. Gemäss Popper bringen induktive Schlüsse also keine absolut gültigen Erkenntnisse. Einzelbeobachtungen und die daraus folgenden Theorien können höchstens vorübergehend bestätigt, aber nie verifiziert werden.
Wichtigkeit der Falschheit
Popper weiss um die Wichtigkeit induktiver Schlüsse für das alltägliche Leben. Ohne Erfahrungswissen könnten Menschen und Tiere nicht überleben. Das zeigt sich in jedem Moment. Morgens müssten wir beispielsweise erneut lernen, wie wir einen Löffel halten, um das Müsli aus der Schale zu löffeln. Wir müssten überhaupt erst die Erfahrung machen, dass das Müsli essbar ist, der Löffel aber nicht. So viele neue Erfahrungen an einem Tag überforderten uns gewaltig. Um den Stellenwert der Induktion für die empirischen Wissenschaften zu stärken, verbindet Popper sie mit der Deduktion, also mit dem Ableiten von Einzelfällen von einer These. Wenn wir die These kennen, dass alle Schwäne weiss sind, können wir gezielt in die Welt ziehen und anhand von Einzelfällen überprüfen, ob wirklich alle Schwäne weiss sind. Selbstverständlich kann kein Forscherteam alle Schwäne auf der Welt beobachten. Empirische Erkenntnisse können also nie endgültig verifiziert werden. Sie können höchstens vorübergehend bestätigt werden. An dieser Stelle kommt das Alleinstellungsmerkmal empirischer Wissenschaften zum Zug. Empirische Theorien können zwar nie endgültig verifiziert werden, dafür aber falsifiziert. Die Beobachtung eines blauen Schwans genügt, damit die These «Alle Schwäne sind weiss» in der Form nicht mehr gültig ist. Eine Theorie in empirischen Wissenschaften muss dann überdacht oder verworfen werden, wenn bereits eine Einzelbeobachtung den bisherigen Beobachtungen widerspricht, sofern diese Einzelbeobachtung unter möglichst gleichen Rahmenbedingungen stattfindet wie alle anderen Einzelbeobachtungen zuvor auch. Popper fasst diese Überlegung in einem pointierten Satz zusammen: «Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können.»
Abgrenzungskriterium
Popper zeigt mit dieser Argumentation nicht, dass Theorien empirischer Wissenschaften das Mass aller Dinge sind. Ihm geht es darum, den Unterschied von empirischen Wissenschaften zu anderen zu verdeutlichen. Nur empirische Theorien können falsifiziert werden. In der Geisteswissenschaft können Theorien weder verifiziert noch falsifiziert werden. Dasselbe gilt für die Metaphysik. Das Abgrenzungskriterium von empirischen Wissenschaften zu anderen ist somit die Möglichkeit, Theorien potenziell falsifizieren zu können. Metaphysische Theorien oder Thesen wie beispielsweise «Gott existiert» lassen sich per Definition nicht verifizieren oder falsifizieren, weil Gott nach weitverbreiteter Definition nicht durch Sinneswahrnehmungen erkennbar ist. Auch politische Überzeugungen oder ästhetische Empfindungen können nicht mit Sinneswahrnehmungen verifiziert oder falsifiziert werden. Hier spielen Argumente und deren Schlüssigkeit eine zentrale Rolle.
Ja, und?
All diese Ausführungen zu Poppers Abgrenzungskriterium helfen dabei, die Wichtigkeit und Relevanz von Meinungen zu verstehen. Empirische Theorien, sofern sie fundiert erforscht und in ausreichendem Masse überprüft wurden, sind meinungsunabhängig. Die Erde ist nicht flach. Menschen und Mäuse stimmen in fast 100 Prozent ihrer DNA überein. Das durchschnittliche Konsumverhalten der Schweizer Bevölkerung verursacht einen überdurchschnittlich grossen ökologischen Schaden. Meinungsabhängig ist hingegen die Frage, was wir mit diesem Wissen machen. Welche politischen, gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen ziehen wir aus dem Wissen, dass der ökologische Fussabdruck der Schweiz so gross ist? Bei Fragen wie diesen sind Meinungen mit einer bestenfalls schlüssigen Begründung von zentraler Bedeutung. Meinungen ohne Begründungen zu äus sern, hilft höchstens dabei, sich zu positionieren oder besser zu fühlen. Wer fundierte empirische Erkenntnisse auf nicht empirischer Ebene in Frage stellt, beziehungsweise sie schlichtweg verneint, gefährdet den gesellschaftlichen Fortschritt und erschwert das eigene Leben. Ohne empirisch wissenschaftliches Denken und Forschen fehlten uns nämlich die allermeisten Annehmlichkeiten, von denen wir jeden Tag profitieren. Das beginnt bei Werkzeugen, Gegenständen aller Art und endet bei den schon fast fantastischen Möglichkeiten der Medizin.