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«Die Seespiele sind auch etwas mein Projekt»

Musical | Iwan Wassilevski ist musikalischer Leiter und Dirigent der Thunerseespiele. «Mary Poppins» wird im Sommer 2024 auf der Thuner Seebühne gezeigt werden – weltweit zum ersten Mal als Open-Air-Inszenierung. Hauptdarstellerinnen und -darsteller sind gecastet, der Vorverkauf ist angelaufen.

| Sonja Laurèle Bauer | Begegnung
Seespiele
Dirigent vieler Orchester, gebildeter und humorvoller Mensch und leidenschaftlich-anmutiger Tai-Chi-Praktizierender: Iwan Wassilevski in Action. Foto: zvg

Das erste Mal treffe ich Iwan Wassilevski am 1. Oktober dieses Jahres zufälligerweise, als er nach Wien fährt, um Musicaldarstellerinnen und -darsteller für «Mary Poppins» zu casten. «Mary Poppins» wird das nächste Musical sein, das die «Thunerseespiele» inszenieren und das im Sommer 2024 vor der «schönsten Kulisse der Welt» aufgeführt wird – genau 60 Jahre nach dem Film von Walt Disney aus dem Jahr 1964. Der Film wiederum gründet auf den ersten beiden Romanen von Pamela L. Travers. Die Musik, welche die Brüder Richard und Robert Sherman dazu schrieben, wurde schon vor 60 Jahren mit einem Oscar ausgezeichnet, wie auch Julie Andrews, deren Weltkarriere durch die Rolle des Kindermädchens erst ausgelöst wurde. Der Film selbst erhielt 1965 fünf Oscars.

Open-Air-Weltpremiere

Das Musical erlebt im nächsten Sommer eine Art Weltpremiere: Vom Team der «Thunerseespiele» wird es nun zum ersten Mal open-air auf die Bühne gebracht. «Darüber freue ich mich sehr und bin auch stolz», sagt Iwan Wassilevski, der seit über 20 Jahren Dirigent der Thunerseespiele ist. Und deshalb treffe ich ihn, diesmal nicht zufällig, fast zwei Monate später noch einmal – im Café Littéraire in der Buchhandlung Stauffacher in Bern. Wassilevski ist längst zurück von seiner Casting-Tour-de-l’-Europe, war unterdessen in Wien, Hamburg und Zürich, um die besten Musicaldarstellenden der deutschsprachigen Welt zu finden. «Ja, das Casting war sehr erfolgreich, wir haben Topleute», sagt er. Aus­ser bei einem Musical war der Klarinettist und Dirigent bei jedem Stück und in jedem Sommer seit Anbeginn der Thuner Seebühne mit dabei. «Ich freue mich sehr auf den nächsten Musicalsommer», sagt er. Und klärt auf, dass es «Mary Poppins» erst seit 18 Jahren als Musicalversion gibt. «Wir geniessen grosses Vertrauen, auch seitens des Verlags, der für uns das Werk freigibt. Wir werden gefordert sein. Es wird viel Musik, aber auch viele Dialoge geben. Das Stück ist gut instrumentiert. Wir machen eine Zwölferfassung mit Cello und Bass, Band und Bläsern. Das wird wieder sehr schön.»

Warum aber musste er ins Ausland reisen, gibt es hierzulande zu wenig Musicalkünstlerinnen und -künstler? «So kann man das nicht sagen.» Bei «Dällebach Kari» habe sich gezeigt, dass es gehe. «Trotzdem: Die Schweiz mit ihren kleinen Städten ist kein Musicalland. Hier gibt es auch keine grossen Tanzakademien für professionelle Tänzerinnen und Tänzer, wie in den Grossstädten Europas, wie in Deutschland, Österreich oder Holland.»

Wer ist das?!

Rund 800 Bewerbungsdossiers seien im Vorfeld über den Tisch des Regisseurs, der Choreografin, des Produzenten und über seinen gegangen. «Wir sind ein Team. Wir entscheiden gemeinsam.» Die Auswahl sei ein herausfordernder Prozess. «Es braucht stets zwei Besetzungen für die Hauptrollen, falls jemand während der Aufführungen ausfällt.» Auch deshalb sei das Casting so kompliziert. «Es spielen stets alle und alle sind im Einsatz.» Es gebe also zwei Marys und zwei Berts. Es gelte, die passenden Leute zu finden, die in Gesang und Tanz ausgebildet seien. «Wenn eine Schweizerin, ein Schweizer die Rolle tanzen kann, dann nehmen wir bei vergleichbarer Leistung natürlich jemanden von hier. Die Qualität geht aber vor – wir wollen die Besten.»

In der ersten Runde hätten sie bereits 550 Menschen absagen müssen. «Das ist nicht einfach, wir geben uns wirklich Mühe, gerecht und fair zu sein, damit alle eine Chance haben.» In vier Tagen habe das Team 250 Personen geprüft. Der Aufwand sei gross. «Wenn die Künstlerinnen und Künstler gecastet sind, ist es nicht fertig. Danach beginnen die Verhandlungen mit den Agenturen, Wohnungen und Flüge müssen organisiert werden.» Von allen werde eine Karte mit einem aktuellen Foto erstellt. Er lacht: «Sieht man im Vorfeld nur die Künstlerfotos der Agenturen, erkennt man die Künstlerinnen und Künstler live nicht immer.» 

Zurzeit laufen die Kindercastings. Knapp 50 Kinder hätten sich beworben, so Wassilevski. «Ihre jeweiligen Rollen werden drei- oder vierfach besetzt.» Den Kindern werde auch der Probeplan angepasst: Bis 20 statt 22 Uhr. «Manche, die sich melden, sind leider schon zu gross. Sie hochzuheben wäre dann zu streng für Mary und Bert …» Kinder bereicherten das Musical enorm. «Sie geben ihm den nötigen Pfupf.» 

«Was wollt Ihr in dem See?»

Wie war es damals, als 2003 das erste Musical auf dem Thunersee aufgeführt wurde? «Uff, das war schwierig. Bis wir alle Bewilligungen hatten … Das Projekt war neu, die Menschen kannten es noch nicht …» 28 Vorstellungen seien geplant gewesen, «man hielt uns für verrückt», 1600 Plätze seien auf der Zuschauertribüne aufgebaut worden. «Was wollt Ihr in dem See? Spinnts Euch?!», hätten sie öfter gehört. «Es brauchte schon viel Mumm. Doch dann waren wir drei Wochen vor der Premiere ausverkauft. Die Tribünenplätze wurden auf 1800 erhöht.» So sei es damals zu seinem Festanstellungsvertrag gekommen. Später war Iwan Wassilevski sechs Jahre lang in der Geschäftsleitung, bis die Firma verkauft wurde. «Das war zwar schade, aber so haben die Seespiele wieder einen sicheren Hafen gefunden – und wer weiss, ob wir sonst die Coronazeit überlebt hätten.» Er schwärmt: «Die Seespiele sind eine Erfolgsgeschichte: Einmalig, speziell und exklusiv.» Er sei zwar nicht mehr fest angestellt, doch werde er stets wieder angefragt, was ihn sehr freue, so der Dirigent und musikalische Leiter. «Die Seespiele sind auch ein bisschen mein Projekt.» 

Gehör, Talent und Wille

Iwan Wassilevski genoss eine klassische Musikausbildung, die er in Bulgarien begann und in Bern und Zürich an den Hochschulen für Musik vollendete. Er stammt aus dem Südosten des Landes, wuchs 150 Kilometer vom Meer entfernt auf. «Unser Städtchen liegt auf der Höhe von Rom. Es ist dort im Sommer immer 30 Grad heiss, im Winter gibt es kaum Schnee.» Mit acht Jahren habe er seinen Grossvater bei der Hand genommen und sich an der Musikschule eingeschrieben. In seiner Familie sei niemand Musiker. «Ich suchte einfach eine Möglichkeit, mich auszudrücken.» So habe er mit Klavier angefangen. «Ich wollte spielen. Mochte Jazz, liebte Queen.» Schnell habe man dort sein absolutes musikalisches Gehör entdeckt, sein Talent und sein Wollen. Später wechselte er zur Klarinette.

Erst 14 Jahre alt, zog er von daheim aus. Das war 1985. War es nicht hart, noch ein Kind und ohne Eltern zu sein? Er lacht: «Oh doch, für meine Mutter war es auch schwer. Und ich war total allein in meinem Pensionszimmer, konnte nur am Wochenende heim. Während der Woche hatte ich viel Unterricht, musste üben. Ich hatte Heimweh.» Er erinnere sich: «Ich hatte keinen Fernseher, nur Musik und Bücher. Und ich glaube, ich hatte noch ein kleines Radio.» Trotzdem habe er sich privilegiert gefühlt. «In der Musikschule waren wir weniger Schüler als in der staatlichen Schule. Dort waren in einer Klasse 43 Kinder. Ich war Nummer 18. Wir hatten Nummern, so wurden wir auch an die schwarze Tafel gerufen, nicht mit Namen.» 

Später ging er nach Sofia. «Ich wollte zwingend ins Ausland. Daheim hatte ich kaum eine Chance, musikalisch weiterzukommen.» Er habe sich entwickeln wollen. Trotz den grossen Veränderungen nach dem Mauerfall 1989 sei es nicht besser geworden. «Bulgarien hatte noch einen langen Weg vor sich.» 

Grenzschikanen und Tai Chi

Als er 23 Jahre alt war, sei er in den Bus gestiegen und habe die Aufnahmeprüfung für das Konsi Bern gemacht. «36 Stunden war ich schliesslich unterwegs nach Bern, mit allen damaligen Grenzschikanen.» In der Fremde habe er bei null begonnen. «Ja, ich habe mich hochgearbeitet, das Dirigieren studiert und bald darauf kam die Anfrage der Seespiele …» Seither leitet Iwan Wassilevski ausserdem Orchester in Basel und Biel, unterrichtet selbst Studierende an der Zürcher Hochschule der Künste, ist überall als Musiker tätig – und übt Tai Chi aus. Und dies intensiv. «Tai Chi ist auch von der Philosophie her wichtig für mich.» Wie aber kommt er dazu? «Als die Mauer fiel, war ich 18, kaufte mir eine Bibel, einen Koran, eine Thora, Bücher über Buddhismus, Hinduismus und Taoismus und blieb bei den Chinesen hängen. Weil ihre Philosophie abstrakter ist als unsere Religion, also keine Bilder vorgibt, und die Spiritualität das Ganze einbezieht, liegt sie mir am Herzen.» Und er nennt ein Beispiel: «Wenn ein Europäer einen Stein findet, bricht er ihn, um zu schauen, was darin ist. Ein Chinese nimmt und schätzt den Stein so, wie er ist.» Im Taoismus seien Geist und Körper eins. «Ich will mich mit etwas beschäftigen, das alles einbezieht. Dessen Ausdruck schön ist», so der Ästhet, «das edel ist, kraftvoll und erdig. Das ist das Tai Chi.» 

China habe sich leider verändert durch den Druck der Regierung, vieles sei verloren gegangen. «Aber noch heute findet man Menschen, die die alte Energie noch ausstrahlen. In Taiwan haben wir Longshan, ein buddhistisches Kloster, besucht. Drinnen gibt es auch einen taoistischen und einen konfuzianischen Teil. Und wir meinen, unser Haus der Religionen sei einmalig.»

«Das beeindruckt mich»

Tai Chi praktiziert Wassilevski seit vielen Jahren. Und er erzählt von einem Erlebnis, das ihn zutiefst beeindruckte. «1993 unterrichtete mich in Bulgarien ein Chinese morgens auf dem Trottoir. Dr. Liu war ein chinesischer Mediziner.» Bevor der Musiker in die Schweiz kam, schrieb ihm der Arzt seine Adresse auf einen Zettel. «Später reiste ich mit meiner Frau zum ersten Mal nach China, fast zwanzig Jahre nach den Trottoir-Trainings in Bulgarien.» Dort habe er den Tai Chi-Experten anhand der mitgenommenen Adresse spontan gesucht. «Doch die Adresse gab’s nicht mehr. Die Regierung hatte für die Olympiade alle Häuserblocks niedergerissen.» Der Taxifahrer, der sie an den Ort gebracht hatte, fragte, ob sie ins Hotel zurückwollten, als sie einen Mann auf einem Moped auf dem Trottoir sahen. Seine Frau habe gesagt, «komm, lass uns den einfach mal fragen», er selbst hätte lieber im nahen Ladengeschäft gefragt. «Also gaben wir ihm den Zettel. Er sprach kein Wort Englisch.» Er selbst aber habe die Worte «Grossbruder» oder «Kleinbruder» verstanden – «die chinesische Sprache hat verschiedene Worte für Bruder» – und dessen Staunen gespürt. «Lange Rede, kurzer Sinn», so Iwan Wassilevski, «es war wirklich Dr. Lius Bruder. 20 Minuten später sass der Gesuchte, den ich über 20 Jahre nicht gesehen hatte und dessen Haus es nicht mehr gab, vor uns.» Und dies, weil sie «zufälligerweise» den richtigen Mann gefragt hätten. «Und wir machten noch an Ort und Stelle Tai Chi.» Danach seien sie von der Familie des Mediziners aufgenommen worden, die sie am dortigen Leben teilhaben liess. «Das konnte kein Zufall sein, dass ich ihn dort wiederfand. Das war ein Wunder. Das vergesse ich nie.»

 

Vorverkauf für Mary Poppins ist eröffnet


Im Sommer 2024 kommt das berühmteste Kindermädchen der Welt auf die Thuner Seebühne. Tickets für das international erfolgreiche Musical von Disney und Cameron Mackintosh sind ab sofort im Vorverkauf erhältlich. Vom 10. Juli bis 24. August präsentieren die Thunerseespiele Mary Poppins als erste Veranstalterin in der Schweiz. Oliver Burger, Mitinhaber der Thunerseespiele: «‹Mary Poppins› ist eine Geschichte für Jung und Alt. Eine unterhaltsame, temporeiche Show mit eindrücklichen Ohrwürmern.»

Für die Umsetzung der Thuner Neu-inszenierung wurde Regisseur Matthias Davids engagiert. Davids ist seit Dezember 2012 künstlerischer Leiter der Sparte Musical am Landestheater Linz und verantwortet in dieser Funktion jährlich vier bis sechs Inszenierungen. Neben seiner Tätigkeit in Linz inszeniert Davids an grossen Theatern überall im deutschsprachigen Raum. An Davids’ Seite stehen Choreografin Kim Duddy (Regie und Choreografie für Cats 2017 in Thun), Bühnenbildner Andrew Edwards und Kostümbildner Aleš Valášek (Kostümbild für Dällebach Kari 2023 in Thun). Die musikalische Leitung von Mary Poppins hat Iwan Wassilevski inne.


Berühmtestes Kindermädchen der Welt

Das Musical erzählt die Geschichte der Familie Banks. Deren Kinder Jane und Michael tanzen ihrem Kindermädchen auf der Nase herum. Die Eltern entscheiden, dass sie dringend eine neue Betreuerin brauchen. Mit der Anstellung von Mary Poppins kommt frischer Wind ins Haus. Humorvoll und einfühlsam gestaltet die junge Frau den Alltag mit Jane und Michael. Sie nimmt sie auf zahlreiche magische Abenteuer und Traumreisen mit. Dabei verändert sich nicht nur das Wesen der Kinder, sondern die Dynamik der ganzen Familie.

Über 12 Millionen Menschen weltweit haben Mary Poppins gesehen. Es wurde in neun Sprachen übersetzt und erhielt über 30 internationale Auszeichnungen.

Pressedienst


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