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«Wir müssen unsere Krisenmuskeln trainieren»

Jenseits der Sprechstunde | «Gesundheitsförderung ist Kompetenzförderung», sagt Esther Pauchard. Das neue Buch der Psychiaterin aus Thun und über die Schweiz hinaus bekannte Schriftstellerin ist kein Krimi, sondern ein Rezept – allerdings keins zum Kochen, sondern eins fürs Leben.

| Sonja Laurèle Bauer | Begegnung
Esther Pauchard
Esther Pauchard in ihrem Lieblingsrestaurant, der Gaststube im Tempel in Allmendingen. Foto: Erich auf der Maur/zvg

 Bereits als sie die Türe ihres Hauses in Thun öffnet, ist klar: Die Begegnung mit Esther Pauchard wird eine Bereicherung sein. Ihr Gesicht ist offen, ebenso ihr Blick. Kein bisschen Überdruss findet sich darin, kein Misstrauen, keine Überheblichkeit. Diese Frau ist offensichtlich genauso neugierig auf ihren Besuch, wie dieser auf sie. Und sie beschliesst, ihm zu vertrauen. Nach eineinhalb Sekunden fühlen sich beide Frauen beieinander wohl – was für ein schönes Geschenk. Die Besucherin legt die sie kurz anfallende Unsicherheit ab und folgt der Autorin ins Wohnzimmer. Alles ist warm eingerichtet, duftet nach Frühherbst. Sogar die Wände scheinen sich später beim Gespräch am Tisch um die 50-Jährige zu schmiegen. Die ältere Tochter verlässt bald darauf fröhlich grüssend das Haus, während die Hauskatze den Besuch majestätisch ignoriert. 

Wie die Begegnung für die Journalistin dieser Zeitung eine Bereicherung ist, so ist es Pauchards neues Buch «Jenseits der Sprechstunde» für die Leserschaft. «Ich bin unglücklich mit dem Wort Ratgeberliteratur», sagt die erfahrene Psychiaterin, Referentin, Familienfrau und Mutter zweier Töchter, die in Kürze als leitende Ärztin im neuen psychiatrisch-psychotherapeutischen Zentrum für junge Erwachsene in Thun (PZJE) tätig sein wird.

Es liege ihr fern, irgendjemanden «beraten» zu wollen, zu vermitteln, dass sie allein die objektive Wahrheit kenne. Deshalb wurde ihr Buch zu einem langen Brief, der sich direkt an die Leserin oder den Leser richtet. Zu einer Art geschriebener Sprechstunde. Die «Sitzung», oder besser «Lesung», kann von den Lesenden jederzeit verlassen werden. Doch wer mit der Lektüre beginnt, wird sehr wahrscheinlich die ganze «Sitzung» hindurch bleiben. Denn Esther Pauchard nimmt ihre Lesenden mit auf eine Reise zu ihnen selbst, aber auch zu sich selbst, scheut sich nicht, aus dem eigenen Leben zu erzählen, das seit ihrer Kindheit gesundheitlich schwierig war. Nicht nur vor Ort am Tisch, auch im Buch strahlt Pauchard durch ihre klare Haltung und Persönlichkeit. 

«Es brauchte Mut, dieses Buch zu schrei­ben. Ich exponiere mich darin, positioniere mich.» Die Autorin ist eine, die für ihre Haltung einsteht, auf beiden Beinen im Leben steht – selbst wenn ihr rechtes durch einen Geburtsfehler kürzer und sie dadurch beinträchtig ist. Oder besser war: weil die Behinderung für sie heute keine Rolle mehr spiele, wie sie sagt. So geht es auch in ihrem neuen Buch um die drei Selbst: Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen, respektive die Achtung und der Respekt vor sich selbst und, infolgedessen, vor den Menschen um einen herum.

Berühmt mit Kassandra Bergen

Seit 25 Jahren arbeitet Esther Pauchard in der Psychiatrie, davon mehr als 16 Jahre in Führungspositionen. Neben ihrer klinischen Tätigkeit ist sie in der Ausbildung von Fachärzten tätig, als Supervisorin und als Referentin. Sieben Kriminalromane schrieb sie und hatte damit grossen Erfolg. Der letzte hiess «Jenseits der Gier». «Mit diesen Büchern wollte ich zeigen, wie es in der Psychiatrie wirklich aussieht.» In den ersten Krimis brachte sie den Lesenden die verschiedenen psychiatrischen Krankheiten näher: emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Suchterkrankungen, Schizophrenie. «Dann wurden die Themen politischer.» In «Jenseits des Zweifels» geht es um die akuten Probleme im Gesundheitswesen, eingehüllt im Deckmantel der Unterhaltung. In «Jenseits der Gier» um Alter und Tod. «Die Krimis waren die Vehikel, mit denen ich die Themen transportieren konnte.» Es gibt viele Parallelen zwischen der Protagonistin Kassandra Bergen und ihrer Erschafferin. Am persönlichsten sind für Esther Pauchard aber nicht äussere Umstände, sondern die Haltung, die ihre Bücher ausdrückten. «Meine Haltung fand sich aber stets nur zwischen den Zeilen. Die Krimis blieben hauptsächlich Unterhaltung.» Mittlerweile aber sei die Versorgungslücke in der Psychiatrie so akut, dass man nicht mehr darüber hinwegsehen könne. Deshalb habe sie sich entschieden, die Problematik direkt anzusprechen. Was ihr wichtig ist: «Mein Buch ist nicht Psychotainment!». Sie könne diesen Begriff nicht ausstehen. Wenn psychische Probleme schön­geredet würden, à la: «Du musst nur dein inneres Kind umarmen, dann ist alles gut.» Esther Pauchard schüttelt es ein bisschen, während sie dies sagt. «Psychische Probleme lassen sich nicht mit simplen, flauschig-flockigen Methoden wegmachen.» Es sei ihr wichtig zu betonen, dass sich ihr Buch nicht an die Menschen richte, die psychisch krank seien, die professionelle Hilfe bräuchten «und die bis zu einem Jahr auf einen stationären Platz warten müssen – zum Beispiel Jugendliche mit Erstpsychosen –, weil die Psychiatrien überlastet sind, das kann es doch nicht sein!» 

Nicht hinter jedem Liebeskummer das Trauma suchen

Endlich werde weniger stigmatisiert, wer psychisch krank sei, dies sei ein Erfolg. Nur, und dies ist Pauchards Anliegen aus Erfahrung, «wenn jemand wegen normaler Lebensthemen und Befindlichkeitsstörungen schon den Psychiater aufsucht, dann ist unsere Gesellschaft nicht mehr gesund.» Sie wisse, dass ihre Aussage missverstanden werden könne, so die Psychiaterin. Und betont nochmals: «Wir reden hier nicht von Menschen mit psychischen Krankheiten, sondern von Gesunden. Aber wie soll ein Mensch Resilienz aufbauen können, wenn er nicht einmal die Möglichkeit erhält, Liebeskummer, der zweifelsohne schmerzhaft sein kann, selbst oder mit Hilfe seines eigenen Umfelds durchzustehen?» Wir Menschen wüchsen an den Schwierigkeiten des Lebens. «Wir müssen lernen, Fehler machen dürfen, um daran zu wachsen.» Viel zu oft stützten sich heute Menschen auf andere ab. «Sie trauen es sich nicht zu, ihren seelischen Schmerz selbst durchzustehen, sie übernehmen die Verantwortung dafür nicht mehr. Agieren nicht selbstwirksam.» Was so viel heisse, wie sich selbst etwas zuzutrauen, aber auch etwas von sich zu verlangen. 

«Wir haben einen akuten Fachkräftemangel. Es gibt, gemessen an der heutigen Nachfrage, viel zu wenig Psychiaterinnen und Psychiater.» Wir seien am Punkt angekommen, an dem es eine Triage brauche. «Wie viele Ressourcen haben wir, und wie verteilen wir sie am sinnvollsten? Damit Menschen, die wirklich psychisch krank sind, schneller Hilfe erhalten.» 

Aussage des Buches, aber auch Weg dahin: Jede und jeder könne die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen. Wer allein im passiven Konsumverhalten süssen Träumen nachhänge, werde kaum das gewünschte Ziel erreichen. «Wenn Sie sich nicht verändern, wird sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an Ihrer Situation nichts verändern», heisst es in ihrem Buch. Sie als Psychiaterin wolle Menschen unterstützen. «Nicht aber alle Probleme für sie lösen, ihnen alles abnehmen.» Deshalb sei ihr Buch eine Hilfe zur Selbsthilfe, solle ermächtigen, nicht schonen und invalidisieren. «Vielleicht stehe ich damit quer in der Psychiatrielandschaft, weil ich konfrontativ und klar bin», so Pauchard. «Aber es nützt niemandem, wenn wir den Kopf in den Sand stecken, die Bevölkerung beschwichtigen und so tun, als könnte nach wie vor jeder alles sofort bekommen, und damit die verbleibenden Fachkräfte in der Psychiatrie ausbrennen lassen, weil niemand den Mut hat, Klartext zu reden. Wir können heute keine Maximalmedizin mehr bieten, wir müssen uns Gedanken darüber machen, was wirklich wichtig und prioritär ist – und was nicht.»

Die Balance finden, auf dem Seil tanzen

«Wir brauchen eine gesunde, robuste Bevölkerung, nicht eine, die von der Medizin abhängig ist. Und dies gibt uns wiederum die Freiheit, dass jene, die wirklich schwere Krankheiten haben, wieder gut behandelt werden können.» Das Problem sei, dass die Gesellschaft von einem Extrem ins andere schwappe. «Wir müssen wieder die Mitte finden, die Balance.» Man könne sich dies als Seiltanz vorstellen, ein dynamisches, flexibles Gleichgewicht. «Gesundheitsförderung heisst Kompetenzförderung. Dies führt zurück zur Selbstständigkeit der Bevölkerung. Dort will ich mich investieren, dort sollten wir die Basis legen.» Einmal habe ihr ein Patient mit einer Suchtproblematik gesagt, er wolle nun versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen, ohne Fachhilfe. «Als ich ihm sagte, dass ich dies wunderbar fände, sagte er mir, ich sei die Erste, die ihm dies zutraue …» 

Gerade weil das Pflegepersonal schwer überlastet sei, müssten Grenzen gesetzt werden: für die Patienten, für das Personal. «Sonst kippt einer nach dem anderen um, wie Dominosteine, bis das System zusammenbricht.» Jeder Einzelne müsse Abstriche machen und statt über das Essen im Spital zu klagen, vielleicht dankbar dafür sein, was hierzulande noch alles angeboten werde. Und die Ärzteschaft dürfe, ihres Erachtens, «das Sterben nicht als Synonym von Versagen betrachten. «Der Tod ist kein Kunstfehler. Er gehört zum Leben. Wir sollten den Kreis des Lebens würdigen, das Sterben annehmen.» 

In der eigenen Gesellschaft wohl sein. Klar, manchen falle es schwerer als anderen, selbstwirksam zu sein, Selbstvertrauen aufzubauen. «Niemand kann sein ganzes Wesen umstülpen. Aber man kann versuchen, seine geistige Bewegungsfreiheit auszuweiten.» Wichtig sei, dass wir uns mit uns selbst auseinandersetzten. Ihr Buch sei nur ein möglicher Mosaikstein dazu. «Wir sollten zu uns selbst kommen und weniger zu den Ärzten», schmunzelt sie. Und betont erneut: «Wir sollten uns selbst und unseren Kindern nicht alles Unangenehme ersparen, wir wachsen an Herausforderungen. Schonung ist gut gemeint, aber schädlich.» Und Esther Pauchard weiss, wovon sie spricht, und erzählt davon auch in ihrem Buch: Vor vier Jahren erhielt sie eine Krebsdiagnose. Heute sei sie dankbar für diesen Lernprozess. «Die Krankheit zeigte mir meine Grenzen auf.» 

Mit ihrem Buch wolle sie auch zur Dankbarkeit anregen. Und: «Wir müssen unsere Krisenmuskeln trainieren, uns an Hindernissen und Herausforderungen reiben und uns dabei entwickeln, um resilient werden zu können.» Oder: «Wenn ich vor einem Problem stehe, welcher Art auch immer, ist meine Möglichkeit, daran etwas ändern zu können, vielleicht nicht hundert Prozent – aber sie ist auch nicht null. Und dort dazwischen, auf dem Kontinuum zwischen null und hundert, kann ich eine Menge rausholen.» Metaphorisch gesprochen: «Wenn zehn Fotografinnen in den Wald gehen, dann bringt jede ein anderes Bild vom selben Wald mit, und jedes davon ist wahr. Wir nehmen die Welt nicht objektiv wahr, sondern subjektiv, wir erzählen uns unsere eigene Geschichte. Ich will meinen Blickwinkel so einstellen, dass ich danach ein Bild habe, das mir und anderen dient.» Wir müssten lernen, wieder selbst stehen zu lernen. «Heute stützen sich immer mehr Schwache auf immer weniger Starke. «Es ist eine Milchbüchlein-Rechnung: Das kann nicht funktionieren. Die Gesellschaft als Ganzes muss wieder lernen, auch in schwierigen Zeiten selbst zu stehen. Damit jene, die dies wirklich nicht mehr können, von genügend Starken getragen werden.»

 «Jenseits der Sprechstunde», Esther Pauchard. Lokwort Verlag. ISBN 978-3-906806-44-0


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