«Es ist nicht einfach, Flüchtling zu sein»
Reportage • Im Gurnigelbad oberhalb von Riggisberg sind Asylsuchende untergebracht, die bereits die erste Phase des Asylverfahrens hinter sich haben. Fernab der Zivilisation hoffen sie hier auf einen positiven Asylentscheid. Zwei junge Männer aus der Türkei erzählen ihre Geschichte.

Der Weg windet sich um die Hügel hoch bis auf über 1000 Meter. Es ist ein nebliger kalter Nachmittag. Der Winter kündigt sich unmissverständlich an. Der Ort hat etwas Verwunschenes, ja gar Mystisches. Und er hat eine Geschichte. In der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts gaben sich hier die Schönen und Reichen die Klinke in die Hand. Die Gäste, nicht selten aus dem Adel, stammten aus ganz Europa und sogar aus Übersee. Nicht zuletzt wegen der nahe gelegenen schwefel- und eisenhaltigen Quellen war das Gurnigelbad ein beliebter Kurort. Das Hauptgebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Armee gesprengt. Heute steht nur noch das Nebengebäude des einstigen «Grand Hotels».
Im «Wartesaal»
Der Glanz von früheren Zeiten ist inzwischen längst verblasst. Heute bietet das etwas heruntergekommene Gebäude Platz für bis zu 200 Asylsuchenden. Für diese ist es eine Art Zwischenstation. Sie warten auf den Entscheid über ihr Asylgesuch, haben aber gute Chancen, weil sie die erste Phase des Asylverfahrens schon mal überstanden haben. Wie lange sie hier sind? Das wissen sie nicht. Wo es nach einem Entscheid hingeht, ebenfalls nicht. Entweder sie werden zurück in die Heimat geschickt, oder sie dürfen bleiben, wonach erwartet wird, dass sie sich in Gesellschaft und Berufswelt integrieren. Doch das mit der Integration ist ein wenig schwierig hier. Nach Riggisberg sind es etwa zehn Kilometer. Viermal am Tag verkehrt ein reguläres Postauto zwischen Gurnigelbad und Riggisberg. Zwei Mal direkt, zwei Mal über Schwarzenburg. Dann dauert die Reise über zwei Stunden mit einer längeren Wartezeit am Bahnhof Schwarzenburg. Deshalb wurden zusätzliche Extrafahrten eingerichtet, und die Asylsuchenden dürfen die Postautos immerhin gratis nutzen. Oder sie lassen sich von Freiwilligen chauffieren, die den Asylsuchenden das Leben hier etwas erträglicher machen und auch für Fahrdienste in Notfällen zur Verfügung
stehen.
Drinnen ist es warm, das Holz der Innenverkleidung versprüht einen gewissen Alpencharme. Zwei Männer um die dreissig aus der Türkei haben sich bereit erklärt, ihre Geschichte zu erzählen. Diese lastet merklich schwer auf ihren Schultern. Rasch wird klar: Sie sind alles andere als freiwillig hier in der Schweiz. Der Entscheid, ihre Heimat zu verlassen, fiel ihnen schwer. Beide liessen ihre Familien mit kleinen Kindern zurück. Kinder und Ehefrauen sind nun weit weg. Aus Angst, dass diesen etwas passieren könnte, wollen die beiden anonym bleiben, denn: «Unsere Regierung ist eine Mafia, überall könnten Spitzel sein», sind sich die beiden einig. Tatsächlich befindet sich das Land nach einem Putschversuch von 2016 faktisch im Ausnahmezustand. 2018 trat zwar eine neue Verfassung in Kraft, doch mit erweiterten Rechten für die Exekutive, und insbesondere für den Staatspräsidenten Erdogan hat sich gegenüber dem Ausnahmezustand nichts Wesentliches verändert. Denn dieser regiert das Land mit eiserner Faust. Gemäss Statistik der renommierten Zeitung «The Economist» bewegt sich das Land immer mehr in Richtung eines autoritären Regimes. Und das bekommt vor allem die kritische Zivilbevölkerung zu spüren.
Vom Regen in die Traufe
So wie die beiden, die hier im Gurnigelbad auf unbestimmte Zeit warten. Beide sind gut ausgebildet, hatten angesehene Jobs, die sie jedoch verloren. Weil sie verdächtigt wurden, gegen das Regime zu sein. Und wer einmal auf der «schwarzen Liste» der Andersdenkenden steht, erhält offiziell keine Arbeit mehr. Denn auch Arbeitgebende müssen befürchten, unter Druck gesetzt zu werden. Doch die beiden Männer haben sich irgendwie durchgeschlagen, arbeiteten im Verborgenen, um ihre Familien über die Runden bringen zu können. Bis der Leidensdruck schliesslich zu gross wurde. Sie sind sich einig: «Es ist nicht einfach, Flüchtling zu sein.» Sie kamen also ein wenig vom Regen in die Traufe. Dies, nachdem sie Tausende von Euro für die Flucht bezahlt haben, wofür sie mehre Jahre Geld gespart hatten. Sie waren einen ganzen Monat lang unterwegs, um schliesslich hier in der Schweiz zu landen. In einer Schweiz, die sie nicht mit offenen Armen empfängt. Beide tun sich sehr schwer damit, dass sie nicht arbeiten dürfen. Das System zwingt sie dazu, von der Asylsozialhilfe zu leben, die tiefer ist als die Sozialhilfe für Personen mit einem Schweizer Pass. Immerhin können sie sich freiwillig betätigen. Das bessert zwar ihre knappe Kasse nicht auf, doch es gibt eine Tagesstruktur und noch wichtiger:
Kontakte zur hiesigen Bevölkerung.
Solche freiwilligen Arbeitseinsätze beispielsweise im Schlossgarten (Wohnheim für Menschen mit Behinderung) oder im Riggishof (Altersheim) werden gegenwärtig von der Kollektivunterkunft administrativ und von der Freiwilligengruppe «Gurnigelasyl» operativ begleitet. «Gunigelasyl» entstand aus den beiden vorangehenden Freiwilligengruppen «Riggi-Asyl», initiiert und geleitet durch das langjährige Engagement für Asylsuchende von Pfarrer Daniel Winkler der Kirchgemeinde Riggisberg und dem Verein «offenes Scherli», initiiert und viele Jahre geleitet durch Jürg Schneider. Beide Gründer sind die treibenden Kräfte und Inspiratoren von «Gurnigelasyl». Marianne Windler koordiniert die Freiwilligen, die sich um die Asylsuchenden im Gurnigelbad kümmern. «Ich schätze die Lebenssituation der Asylsuchenden als herausfordernd bis überfordernd ein», sagt Marianne Windler. «Die Tatsache, dass die Geflüchteten in hoher Anzahl, dicht, fast ausschliesslich unter sich und fernab von der Zivilisation wohnen, erschwert die soziale und kulturelle Durchmischung sowie die Integration enorm», führt Marianne Windler weiter aus. In den Zimmern herrsche zudem «Dichtestress», da sich sechs bis acht Personen einen Schlafraum teilen müssten. Um so wichtiger seien in dieser Situation jene Bewohnenden des Gurnigelbads, die über «beachtliche» Resilienzkräfte, Empathie und Hilfsbereitschaft verfügten, um Neuankömmlinge zu beraten und zu unterstützen.
Eine neue Seite aufschlagen
Dazu zählen bestimmt auch die beiden Männer aus der Türkei. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Denn sie haben noch etwas vor mit ihrem Leben. Beide möchten möglichst schnell arbeiten und sich integrieren. Dies auch, um ihre Frauen und Kinder in die Schweiz holen zu können. Dafür lernen sie auch eifrig Deutsch, denn sie haben erkannt, dass die Kommunikationsfähigkeit wie eine goldene Brücke zu den Menschen und ins gesellschaftliche Leben führt. Als besonders hilfreich erleben dabei die beiden das Engagement der freiwilligen Lehrpersonen im Gurnigelbad und von «Deutsch integral» in Bern. Gleichzeitig mit dem Spracherwerb stellen sie die ersten Weichen für eine mögliche spätere berufliche Tätigkeit. Der eine hat sich in der Türkei zeitweise als Fahrlehrer betätigt, nachdem er aus politischen Gründen seinen gut bezahlten Job verloren hatte, und bestand kürzlich gerade die Autoprüfung. Der andere war Softwareentwickler und möchte daran anknüpfen, wozu er sich einen Laptop organisiert hat, um später ein Praktikum auf diesem Gebiet machen zu können. Ermöglicht haben dies Spenden von «Riggi-Asyl» und «offenes Scherli». Und für die beiden steht fest: Der Aufenthalt hier kann nur ein weiteres Kapitel in ihrem Leben sein. «Wir haben eine Verantwortung gegenüber unseren Familien», sind sich die beiden einig. «Wir wollen so bald wie möglich eine neue Seite aufschlagen.»