«Tierversuche hemmen den medizinischen Fortschritt»
Forschung • CIVIS-Schweiz setzt sich für den Ausstieg aus Tierversuchen ein. Der Verein fördert versuchstierfreie Methoden direkt und dafür, dass diese verbreitet angewendet und staatlich vermehrt gefördert werden. Die versuchstierfreie Forschung auf der Basis eines stufenweisen Ausstiegplans aus Tier-versuchen soll als verbindliches Ziel etabliert wird. Wir sprechen mit Dr. med. Renato Werndli, Co-Präsident von CIVIS-Schweiz.

Herr Werndli, Sie sind der Überzeugung, dass Tierversuche weder Menschen noch Tieren helfen oder nützen. Wie kamen Sie zu dieser Einstellung?
Renato Werndli: Ich habe schon als Student gemerkt, dass das, was wir den Tieren antun, weder richtig noch gerecht ist. Das muss einem bewusst werden …
Sie sind Arzt. Ich bin Herzpatientin. Ich profitiere von der Medizin. Darf jemand an meiner Stelle sagen, sie/er sei gegen Tierversuche?
Gerade von Krankheit Betroffene müssen dagegen sein! Unbedingt! Denn Sie wollen doch Medikamente, die auf stabilen Resultaten basieren, nicht wahr?! Tiere eignen sich dazu nicht. Das ist längst bekannt. Tiere reagieren anders als Menschen. Unsere Krankheiten sind nicht auf Tiere übertragbar. Das bedeutet, dass Ergebnisse, die via Tiere zustande kamen, dem Menschen nicht helfen.
Was wäre die Lösung?
Die Metaforschung*. Sie ist die Lehre der Forschungsmethoden. Die Forschenden sollten sie konsultieren, wenn sie eine «Fragestellung» erforschen wollen. So würden sie schnell von Tier-versuchen wegkommen, da die Metaforschung nachweist, dass Tierversuche in Bezug auf die meisten Fragenstellungen ungeeignet sind. Dies, weil das Tier mit seinen Emotionen als Messinstrument weniger stabile Resultate liefert als leblose Messinstrumente oder emotions-lose Zellkulturen.
Heisst das, dass die Metaforschung zum Ergebnis kam, dass Tierversuche – ausser dass sie grauenvoll und respektlos
gegenüber Tier und Mensch sind – uns Menschen gar nicht helfen?
Ja, ich habe mehr als hundert Metaforschungs-Studien gesammelt. Ich sah, dass Tierversuche nicht nur nichts nützen, sondern als Forschungsmethode ungenügend sind.
Nennen Sie uns bitte Alternativen?
Es gibt heute unzählige, Tierleid-freie Möglichkeiten. Innovative Technologien wie Organ-on-a-Chip, Patient-on-a-Chip**. Es gibt präzisere, effizientere, vor allem personalisierte Methoden. Die absolute Nummer 1 aller Alternativmethoden sind die zellbasierten Bio-Chips, die Forschung an Zellkulturen. Zellen sind zwar lebendig, aber empfindungsunfähig. Im Prinzip sind dies menschliche Zellkulturen im Kleinformat. Sie sind besonders in der Forschung und in der Entwicklung von Medikamenten sowie der Toxizitätsprüfung von grosser Bedeutung.
Gibt es noch andere?
Computersimulationen, Autopsien, Mikrotumortechnologien mit Krebszellen aus Biopsien, Miniorgane aus Stammzellen, digitale Zwillinge, 3-D-Bioprinter, epidemiologische Studien und viele mehr.
Warum wird dann so an Tierversuchen festgehalten? Geht es wieder mal um Macht und Geld?
Ja, dies auch. Aber vor allem haben Pharmafirmen gesetzliche Interessen. Sie fürchten, haften zu müssen, wenn etwas nicht funktioniert, wenn ein Medikament nicht greift. So können sie sagen: «Sorry, wir testeten es am Tier, wir sind also nicht schuld», sprich haftpflichtig.
Dazu kommt, dass es heisst, man habe es «immer so gemacht». Dies vor allem in der Grundlagenforschung. Und, nur nebenbei: Können Sie sich vorstellen, dass zum Beispiel jene, welche die Labors einrichten, sagen würden, man solle Tierversuche abschaffen …?! Oft hat es einfach rein wirtschaftliche Gründe.
Die GLP sagt zum Beispiel, sie sei auch gegen eine totale Abschaffung der Tierversuche, dafür für «griffige Massnahmen der 3R-Forschung: Replace, Reduce, Refine.» Also für die 3R-Prinzipien «ersetzen, reduzieren, verbessern». Liegt diese Forderung schlichtweg am Unwissen der Politikerinnen und Politiker?
Nein, aber Politikerinnen und Politiker sind halt nicht Spezialisten auf diesem Gebiet. Und sie sind ganz sicher keine Meta-Forschenden. Sie sollten ein Urteil den wirklichen Spezialistinnen und Spezialisten, eben den Meta-Forschenden, überlassen. Und noch etwas zeigt es …
Was?
Tiere sind für die meisten Menschen nach wie vor weniger wert als Menschen. Das ist purer Speziesismus: Die Diskriminierung von nicht-menschlichen Tieren und ihre Ausbeutung als Nahrungs- und Forschungsobjekte, als Bekleidungsmaterialien oder Spielzeug – nur aufgrund ihrer Spezies-Zugehörigkeit. Leider sind Menschen, die so denken, nach wie vor in der Mehrheit. Sie sind die Mehrheit. Es ist wie beim Rassismus, dessen Respektlosigkeit gegenüber anderen Völkern und Kulturen. Auch da hiess es vor noch nicht allzu langer Zeit: «Es sind ja nur Schwarze, nur Indigene, nur Arme, nur Frauen …» Speziesismus schliesst Tiere mit ein. Denn sie sind lebende, empfindsame Wesen, die respektiert werden wollen und sollen. Im Gegensatz zu: «Es sind ja nur Tiere …» Wir können nur hoffen, dass sich dies irgendwann ändert. Dass Rassismus und Speziesismus aufhören!
Und jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Tierversuche fördern: Was sagen sie zu Ihrer Haltung?
Sie sind zwar Profis und Koryphäen auf ihren Gebieten, aber sie sind eben bei der Wahl der optimalen Forschungsmethoden ihrer Fragestellung auch nur Laien. Sie sollten selbst Hilfe in der Meta-Forschung holen, wenn es darum geht, für eine Fragestellung die richtige Forschungsmethode anzuwenden.
Sie kämpfen nun schon lange für die Anliegen von Menschen und Tieren – vor allem auch in der Medizin. Warum ändert sich nur so wenig? Und wenn, nur so zaghaft?
Menschen sind nicht selten denkfaul. Hinterfragen bestehende Meinungen kaum. Es irritiert einfach, dass jene, die sagen, dass sie Tiere liebten, so etwas mitverantworten können. Etwas, das jeglichen Respekt fühlenden Wesen gegenüber vermissen lässt. Worüber sich unsere Nachkommen einst über uns entsetzen werden! Weil es einfach grauenhaft ist. Aber die meisten verdrängen lieber, als sich dem zu stellen.
Wie aber und woran können Medikamente ohne Tierversuch getestet werden? An Menschen?
Nein, auch Menschenversuche lehnen wir ab. Sie sind absurd! Heute werden sechs bis acht meist junge, gesunde (!) Männer gegen ein kleines Einkommen aufgeboten, Medikamente zu testen. Wie wollen Sie so wissen, ob das Medikament auch bei kranken und älteren Personen wirkt …?!
Wir müssen die Zeit nutzen, Inhaltsstoffe akribisch anschauen, unter Einbezug aller nötigen Expertinnen und Experten und Meta-Forschenden. Diese sagen, welche Methode die richtige ist. Erst wenn man sicher ist, soll das Medikament angewendet werden.
Und wer soll sich für diese Erstanwendung zur Verfügung stellen?
Menschen. Und zwar jene, die an der entsprechenden Krankheit leiden, gegen die das Medikament helfen soll. Wogegen es hergestellt wurde. Natürlich darf das Medikament erst nur in Mikrodosen eingenommen werden. Oder wollen Sie lieber ein Medikament schlucken, das zuvor nur an Ratten getestet wurde? Man muss nur darüber nachdenken …
So wäre der Ausstieg aus Tierversuchen einfach. Denn es gibt kein Gesetz, das sagt, dass unsere Gesellschaft an Tier-versuchen festhalten muss.
Nein, meistens ist es die schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte, Swissmedic, die das Verhalten vorgibt. Da fällt mir auf: Covid hat das ungeschriebene Gesetz eventuell ausgehebelt. Da wurden wahrscheinlich, weil es eilte, Menschen geimpft, bevor lange am Tier rumgeforscht wurde.
Aber nochmals zurück zum Tier: Es geht doch um Erfahrung. Wir haben heute so viele Werte, auf die wir zurückgreifen können. Stellen Sie sich vor, ein Chirurg hätte, bevor er Sie operiert, zuvor nur am Tier geübt …