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Die Würde des Tiers ist in der Bundesverfassung verankert

Recht und Ethik | Vanessa Gerritsen ist Juristin und Mitglied der Geschäftsleitung von «Tier im Recht» (TIR). Die Organisation unterstützt und fördert national und international die Weiterentwicklung von Recht und Ethik zum Schutz der Tiere und in der Beziehung zwischen Mensch und Tier.

| Sonja Laurèle Bauer | Gesellschaft
Affe
Auch Primaten sind nicht gefeit vor Leid: zum Beispiel bei Tierversuchen. Foto: sentience/zvg

Angesprochen auf die hierzulande zum Abschuss freigegebenen Wölfe sagt Vanessa Gerritsen: «Das Abstimmungsergebnis einer Volksinitiative zu ignorieren und ohne zwingende Gründe und dann noch ohne öffentliche Vernehmlassung eine Verordnung zu erlassen, die damit im Widerspruch steht, ist rechtlich tatsächlich problematisch.» Ob die entsprechenden Ausnahmegründe dafür ausreichten, müsse ein Richter klären. Den Juristen fehle die Beschwerdeberechtigung. TIR habe gemeinsam mit anderen Organisationen jedoch eine Aufsichtsbeschwerde bei der vorgesetzten Instanz eingereicht. 

Was genau ist Ihre Arbeit als Juristin bei «Tier im Recht»? «Tiere haben keinen eigenen rechtlichen Status. Sie gelten zwar nicht mehr als Sache, doch sie dürfen innerhalb gewisser Schranken noch als solche behandelt werden. Zentral dabei ist die Güterabwägung. Der Mensch bestimmt die Nutzungsbedürfnisse. Dabei wird die Würde des Tieres regelmäs-sig untergraben. Und dies, obwohl sie in der Bundesverfassung und dem Tierschutzgesetz verankert ist.» Solange die «Tierwirtschaft», also ökonomische Interessen an der Tiernutzung, von Gesetz, Vollzug und Rechtsprechung stets höher gewichtet würden als der Schutz der uns ausgelieferten Tiere, werde die Würde des Tieres nicht respektiert, so Gerritsen. «Nach wie vor werden pro Jahr hierzulande zwei Millionen männliche Küken vergast, sie sind Ausschussware. In jeder anderen Branche würde man einen solchen Verlust nicht hinnehmen.» Doch solange die Fleischwirtschaft vom Staat subventioniert werde, werde dieses Leid in Kauf genommen. «Die Nutztiere werden vollkommen instrumentalisiert – sie werden allein für menschliche Zwecke gezüchtet, geboren, gehalten und getötet. Der Eigenwert des Tieres wird dabei ignoriert. Noch immer werden sogenannten Nutztieren ohne Betäubung Schwänze, Schnäbel oder Zähne gekürzt oder es werden ihnen die Hörner entfernt, um sie an nicht artgerechte Haltungsbedingungen anzupassen.» Selbst Tierärztinnen und -ärzte müssten sich den Wirtschaftsbedingungen anpassen und diese regelmässig über die Bedürfnisse der Tiere stellen. «Ethische Überlegungen fliessen im Veterinärstudium zu wenig ein.» 

Degenerierte Menschheit

Viele heute selbstverständliche, aber mit Blick auf die Tierwürde höchst problematische Praktiken müssten dringend überdacht werden, so die Juristin. «Zum Beispiel, dass die Kälber den Kühen routinemässig weggenommen werden, nur damit der Mensch mehr Milch verkaufen kann.» Es gebe Pionierbetriebe, die dies anders handhabten. «Doch sie haben noch kaum eine Chance. Sie müssen gar nachweisen, dass den Menschen kein Gesundheitsnachteil dadurch entsteht. Zum Beispiel in Bezug auf die Hygiene, dabei ist dies die natürlichste Haltung der Welt.» Das grosse Problem: «Auf politischer Ebene können wir mit Betroffenen kaum sachlich diskutieren, schnell heisst es, wir betrieben Bauern-Bashing.» 

Welche Rechte aber sollen Tiere haben? «Ein Tier kann seine Rechte nicht selbst ausüben. Es ist eine Frage des juristischen Rechtssystems. Wichtig wäre es, den Tieren ein Grundrecht auf Existenz, auf das Leben an sich zuzugestehen.» Aufgrund der menschlichen Interessen würden selbst ihre Grundbedürfnisse stark beschnitten. «Tiere gelten als immer für uns verfügbar. Und die aktuell bestehenden Schutzbestimmungen bleiben häufig toter Buchstabe, denn es gibt keine Stellvertreter, welche die Interessen der Tiere wahrnehmen.» Die Tierwürde müsse ernst genommen werden – so wie die Menschenwürde. «Gesetze sollen nicht nur symbolisch sein.» 

TIR arbeite mit dem bestehenden Tierschutzgesetz. «Und dies, obwohl wir dessen grösste Kritiker sind. Unser rechtliches Instrument ist gleichwohl unser grosser Kritikpunkt. Auf allen Ebenen.» Sowohl im Gesetz als auch im Vollzug gebe es zu viele Lücken. «Vieles wird nicht umgesetzt. Man hat die Argumente auf seiner Seite und rennt dennoch gegen Wände. Manchmal fühlt man sich ohnmächtig, weil man im Kampf gegen diese Ungerechtigkeiten kaum vorwärtskommt.» Wie halten Sie dies aus? «Es ist nicht einfach. Wir tauschen uns im Team aus, ein bisschen wie in einer Selbsthilfegruppe. Unsere Hoffnung liegt zudem in künftigen Juristinnen und Juristen, denen wir bei TIR Praktikumsmöglichkeiten bieten.» Das Aufzeigen von Rechts- und Vollzugslücken sei zwar sehr zeitaufwendig, aber es sei unabdingbar, dass dies sorgfältig und mit hoher Qualität erfolge, damit die Diskussion wissenschaftlich fundiert und sachlich bleibe. Die Juristinnen und Juristen von TIR blieben dran, Schwachstellen des Tierrechts aufzudecken und konstruktive Vorschläge für solide Rechtsgrundlagen zu erarbeiten. «Tiere sind keine Sachen – wir arbeiten darauf hin, dass dieser Grundsatz auch wirklich umgesetzt wird.»

Dr. iur. Vanessa Gerritsen ist Mitglied der Geschäftsleitung. Von 2009 bis 2017 hatte sie Einsitz in der Zürcher Tierversuchskommission. Seit 2021 gehört sie dem AniCura Internal Review Board an, einem unabhängigen Gremium der Mars Veterinary Health zur Beurteilung klinischer Studien in der Veterinärmedizin. Sie ist Mitverfasserin verschiedener Rechtsgutachten und leitet diverse Grundlagenprojekte. 2020 ist sie dem Stiftungsrat von «Das Tier + wir – Stiftung für Ethik im Unterricht» beigetreten. 2021 hat sie die Arbeiten an ihrer Dissertation zur Güterabwägung im Tierversuchsbewilligungsverfahren summa cum laude abgeschlossen.

www.tierimrecht.org


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