«Diese Türe muss stark sein!»
Ukraine/Schweiz | Nataliia Chaban kam nach Kriegsausbruch in die Schweiz. Die studierte Juristin arbeitet als Volontär-Lehrerin an der Ukrainischen Schule der Stadt Bern. Die Mutter einer Tochter sah ihren Mann vor zwei Jahren das letzte Mal, und auch die Tochter ihren Vater.

«Für die ukrainischen Kinder ist es wichtig, sich in ihrer Muttersprache unterhalten zu können», sagt Nataliia Chaban. «Die Sprache ist ein Indikator.» Sie selbst habe nie russisch gelernt. «Russisch ist eine ganz andere Sprache. Wer sich in der Geschichte auskennt, weiss, dass sie nichts mit unserer zu tun hat.»
Vor zwei Jahren kamen Mutter und Tochter gemeinsam in die Schweiz, erst nach Lauterbrunnen, danach nach Hinterkappelen, lebten erst neun Monate bei einer Gastfamilie und schliesslich in einem Haushalt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Heidi und Nicolas Zink, der Gastfamilie. «Das sind die liebsten Leute der Schweiz, wir wurden sehr freundlich aufgenommen», so Chaban. Alle Schweizerinnen und Schweizer, die sie getroffen hätten, seien ihnen zuvorkommend begegnet.
Oleksandra bei der Gastfamilie. Foto: zvg
Das Ehrenwort der Mutter
«Mutterwort» sagt Nataliia Chaban, bis sie das deutsche Wort «Muttersprache» findet. Sie entschuldigt sich sofort dafür, dabei spricht sie nach zwei Jahren bereits ein hervorragendes Deutsch. Mit Herzblut unterrichtet sie jeden Samstag, gemeinsam mit anderen Lehrpersonen, an der Ukrainischen Schule Bern – neben einem grossen, generellen Engagement für ihre ukrainischen Landsleute. «Wir unterrichten unsere Muttersprache, aber auch Englisch, Mathematik, Musik, Kunst und Theater.» Einige der Fächer seien fakultativ. Das Alter der Kinder variiere. «Wir haben schon Kindergarten-Gruppen mit Kindern ab drei Jahren, jene in der Schule sind bis zu 15 Jahre alt. Nataliia Chaban ist es sehr wichtig, sich zu engagieren. Sie nutzt jede freie Minute dazu. «Wir machen jede Woche Ausflüge für ukrainische Kinder in der ganzen Schweiz oder bieten Workshops an.» Dazu gehöre auch ihre zusätzliche ehrenamtliche Arbeit mit Kolleginnen und Kollegen, die von der Schweizer Organisation «Ukraine-Hilfe Bern» finanziert werde.
Wenn sie nicht unterrichtet, so bietet Chaban zusammen mit Schweizer und ukrainischen Freunden Kochen oder Kerzenziehen an. «Wir müssen einfach etwas tun, auch, um unsere Landsleute moralisch zu unterstützen.»
Vor zwei Jahren habe sie ihren Mann zum letzten Mal live gesehen, so die 43-Jährige, die Pädagogik und Recht studierte. Sie hatte gerade ihre Dissertation beendet, als der Krieg ausbrach. Zwar würden sie jeden Tag öfter telefonieren. «Trotzdem fehlt meiner Tochter der Vater.» Wie sie, sei auch ihr Mann Jurist, so Chaban. Er sei an einer Akademie in Kiew angestellt und helfe Menschen, wenn sie diesbezügliche Hilfe bräuchten. Auch ihre Schwester könne das Land nicht verlassen. «Sie ist Chirurgin und muss nun als Militärärztin fungieren. Wir tun alle, was wir können.»
«All unsere Frauen müssen stark sein»
Ihre Tochter Oleksandra war elf Jahre jung, als die beiden am 22. März 2022 aus Lwiw (deutsch: Lemberg) flohen. Wie kommen Mutter und Tochter allein zurecht, so fern einer Heimat, die sich im Krieg befindet und wo täglich Menschen sterben? «Es ist schwer», sagt Nataliia Chaban, und fügt leise an: «Darf ich weinen?»
Es gehe ihnen hier in Sicherheit sehr gut. «Wir erleben grosse Unterstützung.» Das wolle sie betonen. Aber ohne die Familie – auch ihre Eltern sind noch vor Ort in der Ukraine, leben nahe der moldawischen Grenze – sei es sehr schwierig. «Und die Schweiz ist wunderschön, aber nicht unsere Heimat.» Ja, sie habe schon Heimweh. «Wir waren alle zusammen, hatten Familie und Freunde, Arbeit und Wohnung. Russland nimmt uns jeden Tag neu das ehemals glückliche Leben. Es ist eine Tragödie.» Auch deshalb werde sie nicht ruhen zu helfen, wo sie könne. «Wir Frauen aus der ganzen Welt müssen zusammenstehen, wo immer Krieg ist.»
Auf der guten Seite
Welche Bitte hat sie an die Menschen in der Schweiz? «Ich wünsche mir und bitte darum, dass Schweizerinnen und Schweizer, Ukrainerinnen und Ukrainer zusammenstehen und der Ukraine gemeinsam helfen. Wir sind auf der guten Seite.» Sie weine jeden Tag, weil jeder Tag schlechte Nachrichten aus der Heimat bringe. «Doch ich stehe immer wieder auf.»
Sie wolle sich unbedingt bedanken, für all die Hilfe, die sie hierzulande erhalten hätten, und sie wünsche sich, die Kraft zu haben, nie aufzugeben und weiterzumachen. «Die Ukraine ist die Türe zu Russland. Diese Türe muss stark sein.»