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«Das innere Licht wird gestärkt»

Thunersee • Claudia Däpp aus Steffisburg erzählt Geschichten, hauptberuflich – und trifft einen Nerv bei Kindern und Erwachsenen: In Zeiten von Tiktok und Reizüberflutung entspannen ihre Märchen angenehm. Sie erzählt frei, ohne Buch oder Mikrofon, und stimuliert Fantasie und Vorstellungskraft der ­Zuhörenden.

| Sonja Laurèle Bauer | Kultur
Hier geht es um die inneren Bilder, um Fantasie und Vorstellungskraft: Claudia Däpp erzählt Geschichten. (Foto: zVg)

Ein magisches Erlebnis: Ab 10. Juli wird Claudia Däpp auf dem Thunersee nicht wie bisher nur für Erwachsene als Geschichten-, sondern auch für Kinder mit zwei verschiedenen Programmen als Märchenerzählerin unterwegs sein. Und zwar als eine, die ihr Metier versteht. Denn Däpp erzählt ohne Buch, ohne Mikrofon, ohne Hilfsmittel, aus dem Kopf und auf das entsprechende Alter abgestimmt. Sie ist mehr Erzählkünstlerin denn «blosse Märlitante»: engagiert, einfühlsam, begabt. «Manchmal wollen die Gäste nach einem Abend mit mir und meinen Geschichten gar nicht mehr von Bord», schmunzelt sie. Denn seit vier Jahren ist sie mit dem Solarschiff für Erwachsene, und neu auch für Kinder unterwegs und erzählt Geschichten. Das private Schiff ist perfekt dazu geeignet. «Kein Motorenlärm stört das Erzählen.» Der Start ist beim Strandbad in Thun (Strämu). Dorthin kehrt das Boot nach eineinhalb Stunden auch wieder zurück. Je nach Wetter, Strömung und Geschichten­thema fährt es auf den See hinaus oder hinunter. Ein Kapitän übernimmt das Steuer, sodass sich Claudia Däpp ganz und gar den Kindern widmen kann. Eingeladen sind junge Gäste ab neun Jahren in Begleitung eines Erwachsenen – der Sicherheit wegen. Zwölf Personen finden Platz auf dem Solarschiff. Ist Däpp mit Kindern unterwegs, wird es zudem hinten geschlossen. Das Kinder-Märchen-Angebot ist neu. Selbst bezeichnet sie ihre Kunst als «90 Minuten Ferien daheim. 90 Minuten abtauchen in eine andere Welt.» Die Feedbacks zu ihrer Tätigkeit sind überwältigend. Denn die Märchen werden mit neckischem Schalk und Tiefgang untermalt.

 Verzaubertes Publikum

Bei Claudia Däpp werden die Kinder durch ausdrucksstarkes Erzählen stimuliert, selbst innere Bilder zu erschaffen. Ohne dass ihnen die Bilder, wie im Film, vorgegeben werden. «Sie können ihre inneren Bilder kreieren. So wird die Vielseitigkeit, die Kreativität der Kinder gefördert. Sie können die Geschichten, im Wortsinn, miterleben.» Diese Geschichten nährten die Menschen: Kinder und Erwachsene. In der Schweiz gebe es höchstens eine Handvoll Geschichtenerzählerinnen und -er­zähler, die davon leben könnten, sagt die 40-Jährige. 

Sie erzähle ausschliesslich überlieferte Volksmärchen. «Allerdings weit mehr als die bekannten Grimm-Märchen … Ich kenne Hunderte von Geschichten.» Wenn sie während einer Geschichtenfahrt auf dem Thunersee die Gäste frage, wer noch ein altes Schweizer Märchen kenne, so werde es oft still. «Das möchte ich ändern.» 

Däpp liebt es, auf dem Wasser unterwegs zu sein. Damit sie dies auch aus­serberuflich sein kann, absolvierte sie die Motorboot-Prüfung. «Ich bin gern im, auf dem und am Wasser.» Sie liebe die Natur, wandere gern. Auch mit ihren Märchen ist sie in der ganzen Schweiz und gar im Ausland unterwegs. Aber sie erzählt doch ausschliesslich und bewusst in Berndeutsch. «Aus kultureller Verbundenheit, aber auch als Beitrag zur Pflege und Erhaltung der Mundart. Für Kinder ist das gleichzeitig ein Beitrag zur Sprachförderung, für Erwachsene schafft es Nähe und Vertrautheit.» Ihre Erzählweise ist nicht auswendig gelernt, sondern inwendig lebendig eingeübt, mit viel Mimik, Gestik und Gespür für das Publikum. Dabei feile sie oft wochenlang an der passenden Wortwahl. Es sei ihr ein besonderes Anliegen, alte berndeutsche Wörter wieder zum Klingen zu bringen. Inspiration dafür finde sie ganz bodenständig: «Oft setze ich mich in der Region Thun in ein Restaurant, nahe an den Stammtisch – und höre einfach zu.» Wenn fast vergessene Ausdrücke und Redewendungen geteilt würden, notiert sie diese – und webe sie später in ihre Erzählungen ein. So dringt die Gemütlichkeit des Dialekts durch jede Geschichte – und schenkt den Zuhörenden ein Gefühl von Heimat, Geborgenheit und lebendiger Tradition. Ihr Berndeutsch sei in der ganzen Schweiz ein grosses Plus und trage durchaus einen Anteil an ihrem Erfolg als Erzählerin.

Claudia Däpp erzählt auch im Ausland berndeutsche Märchen. Doch wie geht das? «Es gibt Hochzeiten von Schweizern, die im Ausland heiraten und mich engagieren. Oder Reiseveranstalter, die nach Island oder Ungarn reisen und mich buchen.» So reist sie bald nach Island und erzählt dort in Berndeutsch die Sagen und Märchen des Landes. Erhält so, wie hierzulande das schweizerische, auch dessen Kulturgut: «Island ist voller Geschichten.» 

Die dunkle Schwester des Märchens

Däpp weiss ziemlich alles über Geschichten: «Den Unterschied zwischen Märchen und Sagen könnte man mit Dur und Moll beschreiben», sagt sie treffend. «Die Sage ist die dunkle Schwester des Märchens.» Denn Sagen seien oft grausam, unerbittlich. «Da wird gemordet und gestorben.» Volksmärchen indes, in Dur gehalten, erzählten von der klassischen Heldenreise, «die sich am Ende zum Guten wendet». Die Figuren in den Märchen machten eine Entwicklung durch. «So entstanden die Volksmärchen. Sie sind für Kinder und Erwachsene zum Lernen da. Darin werden Lebens-Lösungswege aufgezeigt. Was aussichtslos erscheint, kann eine gute Wendung nehmen.» Sie wünsche sich, die Märchen würden hierzulande wieder bekannter werden. «Sie sind lebendig, ältere Menschen wissen das.» Es sei ihr wichtig, zu zeigen, wie aktuell – gerade in der heutigen Zeit – Geschichten und Märchen seien. Wie viele Lebensthemen sie beinhalteten. 

In ihrem Repertoire finden sich klassische Volksmärchen, dazu kreiert sie auch eigene Figuren mit lokalem Bezug, etwa der liebenswerte «Seppentoni Kuhschwanz»: ein armer Hirte aus Grindelwald, der auf der Sinnebrücke in Thun sein Glück findet. «Wie magisch ist es für die Zuhörenden, wenn sie bei einem Märchen-Spaziergang genau auf dieser Brücke stehen und dort die Geschichte erzählt bekommen» – oder wenn sie die Brücke bei einer Erzählfahrt vom Schiff aus in der Ferne erblicken. «Solche Erzählmomente verweben Ort und Geschichte auf zauberhafte Weise – und bleiben unvergesslich.»

Für Claudia Däpp ist das mündliche Erzählen ein lebendiges Kulturgut, das nicht nur bewahrt, sondern auch weiterentwickelt werden müsse. 

Hat sie Erwachsene an Bord, so erlaube sie sich, nach einer Stunde auch mal eine kleine Improvisation zu machen. Sie wünsche sich Worte aus dem Publikum und mache eine kleine, improvisierte Geschichte daraus, zur Erheiterung aller. «Da kann es schon vorkommen, dass ich aus ‹Hosenlupf›, ‹Darmspiegelung› oder ‹Stepptanz› etwas kreieren muss.» 

Die Nadel immer wieder angehoben

Schon als Kind hörte Claudia Däpp stundenlang – «und immer wieder dieselben» – Märchen auf Grosis Plattenspieler. Auch das Grosi war stets bei ihnen im Haushalt und ermunterte das Enkelkind zu den Geschichten. «Damals musste man die Plattenspieler-Nadel immer wieder neu anheben und an die richtige Stelle führen, wenn man das gleiche Märchen wieder und wieder hören wollte …» 

Claudia Däpp sieht ihre Erzählkunst als eine Brücke zwischen Generationen, Zeiten und Lebenswelten. Ihre Veranstaltungen schaffen Räume, in denen Zuhören, Mitfühlen und Miterleben möglich werden – sei es auf dem See, in Institu­tionen, in Kleintheatern, am Krankenbett, bei der Firmenfeier oder beim Märchendinner. Mit ihrer Stimme, ihrem Auftritt und ihrer spürbaren Verbundenheit zur Region Thun zeigt Claudia Däpp, dass Märchen nicht nur Erzählungen von früher sind. «Sie sind Nahrung für heute. Und sie sind ein Geschenk, ein wertvoller kultureller Erfahrungsschatz. Sie sind wie ein Stück Heimat. Ein Stück Heimat, das man weitergeben kann.»

Bevor Claudia Däpp eine Geschichte erzählt, recherchiert sie wochenlang, wählt passend aus und ist schliesslich ein Jahr lang mit dieser unterwegs. Dann übt sie Stimmbildung, Gestik, Mimik, Intonation. Hebt den Charakter der Geschichte heraus. Dies fasziniert Erwachsene genauso wie die Kinder. «Bei den Märchen ist das Schöne, dass am Ende alles gut wird. Die Zuhörenden können vertrauen, dass nach jeder Mutprobe, jedem Kraftaufwand, das Gute siegt. Sie erleben, wie es in der Welt da draussen zu und her geht, wie das Schwere überwunden werden kann. Gerade in der heutigen Zeit und Welt-Situation kann diese Zuversicht retten … Das innere Licht wird gestärkt.»


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