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«Deine Mama kommt nicht wieder»

Narzissmus • Noch vor drei Jahren konnte Judith Gysmann nicht darüber sprechen: über die leidvolle Zeit, die sie und ihre Tochter Nele und ihre Zieh-söhne Alexander und Lukas mit deren narzisstischen Vater, respektive Judiths damaligem Partner, erleben mussten. Judith Gysmann heisst in Wirklichkeit anders, so wie auch ihre Tochter und die Söhne. Sie möchte, um sich und ihre Kinder zu schützen, ihre richtigen Namen und den Wohnort – sie lebt in der Region – nicht bekannt geben.

| Sonja Laurèle Bauer | Begegnung
Judith Gysmann litt jahrlang unter der narzisstischen Gewalt ihres ehemaligen Partners. (Bild: zVg)

Heute spricht Judith Gysmann offen über jene acht schwierigen Jahre mit ihrem narzisstischen Partner, respektive dem Vater der Kinder. Und sie schrieb ein Buch darüber. Das Bemerkenswerte: Das Buch ist fundiert, gut geschrieben, süffig zu lesen, hat Tempo und veranschaulicht sehr gut, was so schwer zu begreifen ist – trotz der schweren Geschichte. Gysmanns Buch wurde nicht allein ein Buch für Betroffene, sondern soll auch Fachpersonen, die oft und viel mit dem Thema Narzissmus konfrontiert werden, ansprechen. Denn selbst für Experten der KESB, der Sozialdienste, Psychologen und Psychologinnen, Richterinnen und Richter und viele
andere mehr sind narzisstische Menschen schwierig zu «packen». «Leider wird dieser nicht öffentlich anerkannten Persönlichkeitsstörung, deren Auftreten zunimmt, viel zu wenig Beachtung geschenkt», so Judith Gysmann.

Sie habe das Buch für ihre Tochter, ihre Ziehsöhne und sich selbst geschrieben. Dennoch wurde es kein «Therapiebuch». Vielmehr ist es eine Biografie, gepaart mit dem Wissen aus heutiger Sicht zum allgemeinen besseren Verständnis, wenn es um das Persönlichkeitsbild «Narzissmus» geht. Denn der Begriff ist heute in Mode gekommen. Nicht selten wird er vorschnell bedient. Leider ist Narzissmus nicht sofort erkennbar. «Die Menschen sind enorm charmant, betören zu Beginn ihre Partnerinnen und Partner.» Für Fachpersonen sind sie deshalb so schwer – eigentlich gar nicht – zu durchschauen, weil sie äusserst gewinnend und galant, charismatisch und zuvorkommend auftreten. «Aber Herr Soundso ist doch so nett …», habe sie öfter zu hören bekommen. «Ihm gelang es, Anwalt und Richter zu täuschen.» Diese Täuschung nach aussen, die das den Partnern gegenüber oft gemeine und
unterdrückende Verhalten verdecke, sei die «Waffe» der Narzissten. «Man glaubt ihnen, statt ihren Partnerinnen und Partnern, die enorm unter ihrem Verhalten leiden.» 

Kein Einfühlungsvermögen für andere 

Ein faszinierender und wichtiger Punkt am Buch ist, dass Judith Gysmann das Buch vor der Veröffentlichung jener Person zum Lesen gab, die ihr während der Zeit mit dem Vater ihrer Tochter, dem Mann mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung – im Buch heisst er Sven –, am meisten verhasst war: der Mutter seiner beiden Söhne, Gysmanns Ziehsöhne, wie sie sie nennt. Im Buch heisst sie Nicole. Jener Person also, die Sven über Jahre schlecht machte, sie als «böse» Mutter bezeichnete, mehrmals vor Gericht zerrte. Sagte, sie wolle ihm die Kinder wegnehmen usw. «Ich glaubte ihm. Er konnte so gut überzeugen und log auch oft zu seinem Vorteil.» Nicole indes ermunterte Judith, das Buch zu veröffentlichen. «Sie sagte mir, so wie das Buch aufgebaut sei, sei sehr gut nachvollziehbar, was in einer Beziehung, in die andere Menschen ja nicht hineinsehen können, wirklich geschehe.» Nicole wünschte sich, dass auch ihre zwei Buben, Alexander und Lukas, das Buch läsen. Einer der Jungen brach – überfordert von den Manipulationen des Vaters – den Kontakt zur Mutter ab, worunter diese so sehr litt, dass sie aus der Region wegzog. Heute lebt sie in Luzern. «Und wünscht sich nichts so sehr, wie ihren Jungen wieder zu erreichen. So, wie ich auch.» 

«Die Kinder narzisstischer Elternteile leiden enorm», so Gysmann. «Sie können nicht begreifen, was geschieht. Narzisstische Menschen stellen sich oftmals als Opfer dar.» Die Kinder fühlten sich oft mitschuldig, wollten das «arme», leidende Elternteil beschützen. «Narzisstische Elternteile können sich nicht in das Leiden ihrer Kinder einfühlen, keine Empathie empfinden.» Sie agieren allein zum eigenen Vorteil, vergehen in Selbstmitleid, übernehmen kaum Verantwortung für ihr eigenes Handeln und verbrennen so die Seelen der eigenen Kinder. In den meisten Fällen steht die brutale Rache am Expartner oder Expartnerin über dem Wohl der Kinder.» 

Beleidigen und abwerten

Auch Judiths Tochter Nele, heute 15 Jahre alt, litt unter der Situation. Die Mutter schaffte die Trennung zu ihrem Vater, als Nele fünf Jahre alt war. Noch heute ist ihre Tochter in psychologischer Behandlung. 

Gysmann überlegt, ein Nachfolgebuch zu schreiben, das die Zerrissenheit und das Leiden der Kinder, die Entfremdung zu den Elternteilen, thematisiert. «Oft glaubt man weder betroffenen Partnern noch deren Kindern. Manchmal sieht nicht einmal die eigene Familie deren Not.» 

Warum aber fallen manche Menschen auf Narzissten herein? «Wie gesagt», so Gysmann, «narzisstische Personen sind zu Beginn überaus aufmerksam, achtsam, sehr interessiert – was dem Gegenüber, das nicht selten gerade aus einer schwierigen Lebenssituation auftaucht, schmeichelt. Wie auch sollte es sich dieser charismatischen, vermeintlich unglaublich liebenswerten, oft wortgewandten Person entziehen können?» Jene Person, die einem Narzissten verfällt, nennen wir sie hier das Opfer, sei hypnotisiert und betört von dieser Liebe, an die es vielleicht kaum mehr zu glauben wagte – «und lässt sich fallen». Was wiederum bedeute, dass es alles für sein Gegenüber tue, um ihm zu gefallen und entsprechen. «Die narzisstische Person hat ihr Netz ausgelegt – ob bewusst oder unbewusst, das Schema ist stets ähnlich. Das Opfer bemerkt nicht, dass es langsam, aber stetig instrumentalisiert wird», also dort «eingesetzt» werde, wo der Narzisst oder die Narzisstin es haben wolle. 

Die Kunst der Reflexion

Bei Gysmann war es die Stiefmutter-Rolle, in die sie gedrängt wurde. «Ich hörte jeden Tag, was für eine unglaublich gute Mutter ich sei. Wie viel besser ich sei als die leibliche Mutter, und wie schlimm und böse diese zu ihren Kindern sei.» Natürlich folgten «Beweise» dafür. Der Narzisst, nennen wir ihn hier «Täter», machte sich sein Opfer zur Komplizin, die ihm blind vertraute und glaubte. «Es folgten Sorgerechtsstreite mit seiner Exfrau um die Jungen. Ich glaubte ihm, wenn er mir weismachte, was für eine furchtbare Mutter seine Exfrau für die gemeinsamen Kinder sei. Wie hinterhältig. Er stellte sie als verrücktes, hysterisches Monster dar. Man kann sich das gar nicht vorstellen, denn nach aussen wirken Narzissten sehr einnehmend.» 

Einmal sei dies so weit gegangen, dass sie, Gysmann, die Mutter nicht zu ihren, also deren Kindern gelassen habe, als diese sie unbedingt sehen wollte. «Ich verweigerte einer Mutter die eigenen Kinder. Das muss man sich mal vorstellen.» Jahre später habe sie sich dafür entschuldigen können. Gysmann bleibt reflektiert, steht im Buch zu ihren, aus der Situation resultierenden, Fehlern. Kann das ein Narzisst nicht? «Ein Experte sagte mir einmal, von hundert Narzissten sei einer bereit, sein Verhalten zu überdenken», so Gysmann. 

Narzissmus verhindern – kaum möglich

Gerade deshalb ist es ihr so wichtig, dass mehr und mehr Personen von der narzisstischen Persönlichkeitsstörung erfahren. «Betroffene müssen wissen, was ihnen widerfährt. Aufklärung ist der erste Schritt zurück in ein befreites Leben.» Wie wird man Narzisst? «Es gibt bestimmt verschiedene Gründe. Kinder, die zu verwöhnt wurden. Aber auch das Gegenteil: Kinder, die wenig Anerkennung erhielten.» Was zu beachten sei: «Nicht alle Kinder, die dies erleben, werden zu Narzissten. Viele kommen unversehrt raus», betont Gysmann. 

Den Kreislauf durchbrechen

Auch von der Nachtrennungsgewalt – ein treffendes Wort – erzählt die Autorin. «Denn erst ab dann beginnt der Krieg um die Kinder.» Anders könne man es nicht ausdrücken. Denn der Narzisst mache von diesem Augenblick an, in dem er die Kontrolle über den Partner verliere, diesem das Leben noch mehr zur Hölle. «Und dabei übergeht er die Gefühle der eigenen Kinder und tritt sie mit Füssen.» Einmal habe Sven seiner Tochter Nele gesagt, als sie nach der Trennung ein Wochenende bei ihm verbringen musste und weinend nach ihrer Mama fragte: «Deine Mama kommt nicht wieder.» «Nele erzählte mir dies Jahre später, auch dass sie oft vom Vater alleine gelassen wurde und sehr einsam war.» Für Gysmann waren solche Erlebnisse traumatisch. «Mein Kind trotzdem zu ihm bringen zu müssen, obwohl es sich oft traurig fühlte, war schlimm.» Sie befand sich nun in derselben Situation wie Exfrau Nicole. Es brauche eben nicht immer zwei. «Nein, oftmals reicht einer allein, der seine Macht ausspielt und sein Gegenüber massiv tyrannisiert.» Denn Narzissten manipulierten bösartig. «In ihren eigenen Kindern bricht etwas, das Traumata fürs Leben schafft. Entfremdung ist oft das Resultat. Oft halten Kinder aus Angst zum Täter.» 

Deshalb gehöre Narzissmus-Prävention in jedes Klassenzimmer. «Gerade in der heutigen Zeit, in der die Kinder durch digitale Medien enorm beeinflusst werden. Soziales Verhalten muss ein Schulfach werden, in dem man unter anderem Reflexionsfähigkeit offiziell lernt.» Bis es Gysmann schaffte, der Situation zu entfliehen, vergingen Jahre. Weil sie selbst Mutter ist, weiss sie, was die Mutter ihrer Ziehsöhne durchmachen musste, als der Vater versuchte, sie von den Kindern zu entfremden. Dass sie bei der Geburt ihrer Tochter
alleingelassen wurde, verkraftete sie lange nicht. «Man erzählt das niemandem. Man schämt sich so sehr.» 

Wie subtil dies «schleichende Gift», wie eine andere Autorin den Narzissmus beschreibt, über Jahre in sie hineinfloss und wie es wirkte, beschreibt Gysmann sehr ehrlich. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die unterdessen ihren Humor wiedergefunden hat. 

Nach der Veröffentlichung des Buches lasen Experten ihr Werk, mit sehr guten Rückmeldungen: Es sei kein Opferbuch, äusserst sachlich, mitreissend und hätte grosses Potenzial für die Fachwelt. Lektoriert wurde das Manuskript von einer Lektorin, die auf Narzissmus spezialisiert ist. Aufgrund all dessen wisse sie, wie nötig das Buch sei. Denn Gysmann will aufklären, informieren. Heute engagiert sie sich stark in einer Selbsthilfegruppe für Betroffene. Im Oktober gibt es eine Tagung. Auch eine Anlaufstelle für Jugendliche narzisstischer Elternteile ist vorgesehen. «Die Kinder haben zu grosse Angst vor öffentlichen Stellen. Es könnte etwas zum narzisstischen Elternteil dringen.» Die Ämter seien Narzissten gegenüber meist machtlos. «Narzissten verstehen die Täter-Opfer-Umkehr grandios.


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