«Neue Mitglieder zu finden, ist ein Dauerprozess»
Vereine/Freiwilligenarbeit • Christof Ramseier präsidiert den Berner Kantonalgesangverband und die Schweizerische Chorvereinigung. Was tut zum Beispiel der Belper Chor, in dem Christof Ramseier aktiv und kreativ tätig ist, um für den Nachwuchs attraktiv zu bleiben?
«Dass viele Vereine Mühe haben, neue Leute zu finden, hat vielfach damit zu tun, dass sie über viele Jahre hinweg mit anderen Themen beschäftigt waren. Sie haben tolle Mitglieder, es macht Spass, man unternimmt vieles zusammen, die Mitglieder harmonieren. Man macht sich nicht dauernd Gedanken über die Zukunft, sondern lebt das Vereins leben und in die Jahresaktivitäten hinein», sagt Christof Ramseier, Präsident des Berner Kantonalgesangverbands und der Schweizerischen Chorvereinigung. Was dabei allerdings vergessen werde, sei, dass die Gemeinschaft, die man geniesse, nicht ewig dauern werde.
Konstante Veränderung
Klar, wer sich 20 oder 30 Jahre lang als Gruppe treffe, müsse sich nicht dauernd Gedanken um den Nachwuchs machen. Früher, in den 1950er-, 60er-, 70er-Jahren, sei es normal gewesen, in einen Verein einzutreten, um am Gemeindeleben teilzuhaben, doch dies sei heute anders, so Ramseier. «Man fühlte sich damals sowohl verbunden als auch verpflichtet, in einen Verein einzutreten und das kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Gemeinschaft zu stärken.» Da dies heute längst nicht mehr der Fall, respektive kein grosses Bedürfnis mehr sei, schrumpften die Vereine entsprechend. Plötzlich erkenne man, dass man selbst in einem Alter sei, wo man nicht mehr davon ausgehen könne, noch jahrelang dabei zu sein. «Und auch die Jungen, die vielleicht ab und an kamen, um im Verein auszuhelfen, wo Not an der Frau oder am Mann war, haben unterdessen selbst Familie und fallen weg.»
Viele Vereine machten sich erst nach dieser Erkenntnis Gedanken um neue Mitglieder. «Und ja, dann stellt sich die grosse Frage, wie man junge Menschen in den Verein bringt – wenn alle anderen viel älter sind.» Überhaupt spreche man stets von jungen neuen Mitgliedern, die einem Verein fehlten. Christof Ramseier: «Junge Menschen zu generieren, ist unter diesen Umständen illusorisch. Denn sie wollen sich dort engagieren, wo andere Jugendliche sind: in einem Sportverein zum Beispiel.. Dort sei es weniger ein Problem, Nachwuchs zu finden. Doch für einen Verein, in dem vor allem ältere Menschen aktiv seien, sei es schwierig, neue Mitglieder zu finden. «Selbst wenn diese mit 35, 40 Jahren selbst sesshafter geworden sind als die mobile Jugend. Irgendwann hat jeder Verein den Zenit überschritten, danach findet er keine neuen Mitglieder mehr, da der Altersunterschied zu gross geworden ist».
Eine bewusste Entscheidung
Dazu komme, dass die Überzeugung jener, deren Tätigkeiten im Verein vielleicht dreissig oder vierzig Jahre stets gleich geblieben seien, nicht mit jenen der neuen Mitglieder vereinbar seien. Altersunterschiedliche Ideen in einem Verein harmonisch umzusetzen, sei sehr schwierig. Was wiederum dazu führe, dass jene Neuen, die sich nicht verstanden fühlten, wieder gingen. «Es ist, als spräche man eine andere Sprache». Christof Ramseier: «Unser Verein stirbt nun einfach mit uns. Aber das ist ein bewusster Entscheid». Solle ein Verein über viele Jahre bestehen, so müsse man sich bereits bei der Vereinsgründung Gedanken machen: «Wer wird die Nachfolge des Präsidenten, der Präsidentin übernehmen, wenn er oder sie geht? Wer folgt in den Vorstand? Welches sind die nächsten Projekte, und wie organisieren wir die Gewinnung neuer Mitglieder?» Manchmal passiere etwas durch äussere Umstände, dann fehlten plötzlich fünf Personen. «Diese Ereignisse kann ein Verein nicht voraussehen, aber so gut wie möglich einplanen. Neue Mitglieder zu gewinnen, ist ein Dauerprozess».
Vielen Vereinen, die jahrelang erfolgreich unterwegs gewesen seien, sei dies manchmal nicht wirklich bewusst. «Sie haben viele andere Aufgaben, und deshalb steht diese Aufgabe nicht im Zentrum, die neben der reinen Vereinstätigkeit elementar ist». Dazu komme, dass das Zusammensein, das Sozialleben, früher ein Argument gewesen sei, Mitglied in einem Verein zu werden: «Man machte Ausflüge, gemeinsame Reisen, unternahm etwas zusammen. Heute holt man damit niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Die meisten sind selbst genug unterwegs». Zudem seien die alltäglichen Belastungen im Berufs- und Familienleben grösser geworden. «Vielen fehlt einfach die Zeit». Deshalb sei wichtig, diese Punkte einzubeziehen: «Wo liegt der Schwerpunkt eines Vereins? Was bietet er an? Was sind die Inhalte? Wie und wo ist er attraktiv?» Die Herausforderungen seien enorm geworden. Dies nicht allein bei den Vereinen, sondern auch bei den grösseren Verbänden.
Verantwortung über Aktivität hinaus
Es gebe zwei Phasen in einem Verein: einerseits aktive Tätigkeit, Kraft und Einsatz der Mitglieder für die Sache, für die ein Verein stehe. Und andererseits sei es das Sozialleben. «Viele Menschen bleiben, auch wenn sie älter werden, aus diesem Grund im Verein. Hier steht jeder Verein in der Verantwortung.» Ausser es werde klar kommuniziert, dass jemand austreten müsse, wenn er ein gewisses Alter überschritten habe. «Das ist die Entscheidung des Vereins. Doch mutet es für mich an, als würden alte Menschen aussortiert. Dann haben wir als Gesellschaft etwas falsch gemacht, dann haben wir ein Problem.» Denn jede und jeder könne auch im Alter eingesetzt werden, wo er gebraucht werde.
Zum Beispiel der Belper Chor
Christof Ramseier ist selbst aktiv: im Belper Chor. «Wenn ich Bilder des Chors aus dem Jahr 2008 anschaue, so sehe ich, dass viele heute aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr dabei sind.» Es gehe darum, im Laufe und Wandel der Zeit als Verein attraktiv zu bleiben. «Es müssen interessante Projekte sein, Ideen, die andere Menschen begeistern und zum Mitmachen zu bewegen vermögen.» Der Belper Chor zum Beispiel tritt in regelmässigen Abständen im Ausland auf und lädt ausländische Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker in die Schweiz ein. «Story in Concert», also eine Konzertgeschichte, mit Leadsängerin, Chor und jungen Musikerinnen und Musikern, wurde zum Markenzeichen des Vereins: Im Wechsel mit dem Gesang und der Musik wird von Schauspielerinnen und Schauspielern eine exklusiv dafür geschriebene Geschichte als Hörspiel vorgetragen.
«Wir lassen es geschehen»
«Attraktiv zu sein und zu bleiben, kommt nicht von selbst», so Ramseier. «Für einen Verein ist es herausfordernd und anspruchsvoll.. Je mehr engagierte Mitglieder ein Verein habe, desto mehr Mäglichkeiten öffneten sich wiederum. «Es ist eine Win-win-Situation.» Wichtig sei, dass die Gesellschaft tragen helfe. So geschehe es bei Konzerten immer wieder, dass Menschen so begeistert seien, dass sie selbst anfragten, ob sie mitsingen und mitmachen dürften. «Das Vereinsleben soll etwas bieten und etwas fordern, aber nicht so, dass es überfordert. Es soll einfach geschehen, ohne Druck. Und es kann niemand andere so begeistern, wie jemand, der selbst für das Projekt brennt, dem er Zeit und Energie schenkt. Diese Tatsache sollte vielmehr genutzt werden.»