
Ein Biomassezentrum und die AVAG markieren in der Nähe von Spiez die Grenzen eines kleinen Waldes. In diesem Wald selbst stösst man auf etwas, das auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Bogenschützen. Oder genauer: Ein Bogenparcours, der es Bogenschützen erlaubt, ihre Treffsicherheit inmitten der Natur zu trainieren.
Hans-Peter Bigler aus Mühlethurnen ist der Hüter dieses Parcours. Zieht er einen Pfeil aus dem Köcher und spannt ihn auf seinen Bogen, steigt auch die Spannung beim Zuschauen. Trifft der Pfeil sein Ziel, löst das sogar beim Zuschauer eine Freude und Entspannung aus. Selbst wenn der Pfeil sein Ziel verfehlt, bleibt eine starke Wirkung vorhanden. Die Faszination des Bogenschiessens setzt sich wohl aus verschiedenen Aspekten zusammen: Es hat etwas Gefährliches, Archaisches auf der einen und etwas Entschleunigendes und
Ästhetisches auf der anderen Seite.
Liebe zur Natur
Die 18 Teile des Bogenparcours bieten Bogenschützen unterschiedliche Distanzen und Ziele, auf die sie schiessen. Meist sind dies Tiere aus Kunststoff, man spricht hier von einem 3D-Parcours. Auf die Frage, ob das nicht etwas brutal sei, antwortet Bigler ganz entspannt: «Ich würde nie auf echte, lebendige Tiere schiessen. In der Schweiz ist dieses Schiessen rein sportlicher Natur.» Das Stellen dieser Frage erinnert ein bisschen an das leidige Thema, ob Gamer von Shooter-Spielen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Dass das nicht per se der Fall ist, wissen mittlerweile die meisten. Wird das Ziel im Spot getroffen, gibt es am meisten Punkte. Bei gewissen Turnieren erhält der Schütze gar Minuspunkte, wenn er beim Kunststofftier die vermeintlich tödliche Stelle verfehlt. Vor allem wird während des Gesprächs mit Bigler schnell deutlich, wie wichtig ihm die Natur und Naturerlebnisse sind. Sein Ziel besteht im Bogenschiessen nicht nur darin, das Ziel zu treffen, sondern sich zu entspannen. Diese Form, das
intuitive Bogenschiessen, habe es ihm dabei am meisten angetan.
Erfolgs- vs. erlebnisorientiert
Bigler erklärt, dass im Bogenschiessen zwei Hauptarten bestünden, das intuitive und das technische Bogenschiessen. Beim technischen Bogenschiessen gelte es, die Mitte einer Zielscheibe zu treffen. Die entsprechenden Bögen hätten dafür sogar ein Visier. Deshalb schlössen die Schützen auch ein Auge. Diese Form des Bogenschiessens hänge nicht von der Räumlichkeit ab. Eine Zielscheibe und eine leere Fläche zwischen Schütze und Scheibe genüge.
«Beim intuitiven Bogenschiessen behalten die Schützen beide Augen offen», erklärt Bigler sichtlich begeistert. Sie verwendeten Bögen ohne zusätzliches Visier und anstelle von Zielscheiben schössen sie teilweise eben auf Kunststofftiere. Diese Ziele seien in Form eines Parcours aufgestellt. Ein Parcours bei Turnierbedingungen beinhalte 28 verschiedene Teile. Der Parcours bei Spiez bestehe aus 18.
Die Bewegung komme bei einem solchen Parcours nicht zu kurz. Gut und gerne kämen da über 15 000 Schritte und mehrere Hundert Höhenmeter zusammen. Das intuitive Schiessen solle ein möglichst naturnahes und sinnliches Erlebnis darstellen. Bigler betont: «Wichtig ist vor allem, im Moment des Schiessens nicht zu denken.» Es gehe darum, das Unterbewusstsein zielen und schiessen zu lassen. Man müsse spüren, ob der Pfeil gut fliegt. Er vergleicht den dafür notwendigen Fokus beim Bogenschiessen mit dem Einfädeln einer Schnur in ein Nadelöhr. Für einen gelungenen Schuss seien Fokus und Entspannung das A und O. Und das trotz der Spannung. Je nach Bogen betrage das Zuggewicht der Sehne 23 Kilogramm. «Man muss mit den Sinnen schiessen», sagt Bigler. Die Temperatur, der Wind, die Helligkeit, alles beeinflusse die Flugbahn des Pfeils.
Um das naturnahe Erlebnis zu verstärken, schiesse Bigler am liebsten mit Historical Bows. Das seien Bögen ohne Visier und nach Möglichkeit aus rein natürlichen Bestandteilen angefertigt. Dasselbe gelte auch für die Pfeile. Kurzum, der Unterschied zwischen dem technischen und dem intuitiven Schiessen lässt sich gemäss Bigler prägnant zusammenfassen: «Das eine ist erfolgs-, das andere erlebnisorientiert.»
Obschon er den Fokus auf das Erlebnis setze, ist er mehrfacher Schweizer Meister und gewann an Turnieren schon die ein oder andere Medaille. Vor allem auf die Bronze-Medaille in der höheren Longbowklasse, geschossen mit seinem Historical Bow an der Schweizer Meisterschaft 2017, sei er sehr stolz. Wobei, die Medaille selbst hätte er nicht gebraucht. «Mir wäre ein Stück Käse als Preis lieber gewesen», sagt Bigler, «einige Medaillen habe ich meinen Enkeln geschenkt.» Sie hätten mehr Freude daran.
Jetzt, im Juni, schiesst Bigler in Österreich neben 1600 anderen Teilnehmenden an der Europameisterschaft.
Bögen bauen
Die Liebe zum Bogenschiessen geht bei Bigler übrigens so weit, dass er seine Bögen und Pfeile selbst baut. Auch dabei steht für ihn das Erlebnis im Vordergrund. Obschon das Bauen eines Bogens innerhalb eines Wochenendkurses durchaus möglich ist, lässt sich Bigler gerne Zeit. Den Bau sehe er nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern auch als Selbstzweck. Mittlerweile habe er über 10 Bögen selbst gebaut. Auch daran erkennt man Biglers Liebe zum Bogenschiessen, er gibt seinen Bögen Namen. Die beiden neusten heissen Venus und Diana. Anders als andere, die sich nicht von ihren alten Bögen trennen und sie zu Hause an der Wand aufhängen, geht Bigler einen pragmatischen Weg: «Ist ein Bogen verbraucht oder kaputt, dann entsorge ich die Bestandteile. Kaputt ist kaputt.» Einen ähnlichen Pragmatismus wendet er auch bei seinen Pfeilen an. Er färbt sie mit einem ziemlich auffälligen Gelb. «So finde ich sie besser, wenn ich danebenschiesse», so Bigler, «besonders dann, wenn ich unseren Hund nicht dabeihabe, welcher mir die verlorenen Pfeile sucht.»
Die selbst gebauten Bögen und Pfeile liegen ihm so am Herzen, dass er die geschossenen Pfeile von niemandem aus den Zielen ziehen lässt. Auch seine Bögen dürfen nur ganz wenige ihm nahestehende Personen anfassen. Dafür hilft er anderen Leuten in Form von Kursen, eigene Bögen zu bauen, und lehrt Anfängern das Bogenschiessen. Das aus einem ziemlich einfachen, aber nicht minder schönen Grund: «Es macht mir Freude, zu sehen, welche Freude die Leute beim Bogenschiessen entwickeln und welche Fortschritte sie machen.»
Zudem ist Bigler dafür verantwortlich, dass im Wald überhaupt ein Parcours steht, auch wenn dieser aus nur 18 Teilen besteht. Das Bewilligungsverfahren ist seiner Aussage nach ziemlich mühselig gewesen, mit acht unterschiedlichen Ämtern und Parteien habe er zu tun gehabt, auch eine Einsprache gegen das Projekt sei eingegangen. «Unter der Auflage, dass wir den Wald sauber halten, erhielten wir letzten Endes aber die Zusage», so Bigler. Er schiesst selber, baut selber Bögen, lehrt anderen das Schiessen und Bauen und organisierte gar einen Parcours: Mehr Einsatz für eine Sache geht wohl kaum.
Diskutieren oder sinnieren
Bei einer solch ausgeprägten Leidenschaft stellt sich natürlich die Frage nach deren Ursprung. Dafür muss der Bogen in die Vergangenheit gespannt werden.
Die Geschichte beginnt 1975. Der in Bern lebende Bigler machte einen Spaziergang mit seiner Partnerin. Unterwegs erblickten sie ein Bogenturnier. Der Bogenamor traf direkt in Biglers Herz. Vor allem die Konzentration der Schützen sei es gewesen, die ihn faszinierte.
Trotzdem ging er dieser Leidenschaft während der nächsten paar Jahre nicht nach.
In den 1990er-Jahren schliesslich, Bigler lebte mittlerweile nicht mehr in Bern, sondern in einer kleineren Gemeinde, empfahl ihm ein Freund, doch in den Gemeinderat zu gehen und Gemeindepolitik zu betreiben. «Meine Frau hat mir damals gesagt, ich solle doch besser meinen Traum vom Bogenschiessen verwirklichen», erzählt Bigler, «das war genau der richtige Moment.»
Das Bogenschiessen fand er deutlich spannender als die Vorstellung, als Gemeinderat mit vielen Menschen über viele Dinge zu diskutieren. Er habe lieber etwas Konkretes, etwas Sinnliches machen wollen. Also entschied er sich fürs Bogenschiessen und gegen das potenzielle Amt eines Gemeinderats. Seither findet er seine Entspannung im Bogenschiessen, mit der Ausnahme einer Zeitspanne von vier Jahren. Bei einem Bikeunfall verletzte er sich derart, dass er eine vierjährige Zwangspause vom Bogenschiessen einlegen musste. Trotzdem beschäftigte er sich auch während dieser vier Jahre mit den archaischen Waffen.
Wie Bigler berichtet, sei das Bogenschiessen auf Kunststofftiere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Europa gekommen. Anders als in der Schweiz ist in den USA die Bogenjagd erlaubt. Damit die Jäger mit Bogen dort lernen konnten, ihren Fang so zu treffen, dass dieser möglichst wenig leiden musste, hätten sie ihre Künste an Kunststofftieren geübt. Mit den in Deutschland stationierten US-Soldaten habe das Bogenschiessen als Sportart nach und nach seinen Platz in der Gesellschaft gefunden.
Fotos schiessen
Eine auf den ersten Blick ganz andere Tätigkeit mag Bigler seit seiner Kindheit, nämlich das Fotografieren. Aber vielleicht unterscheiden sich diese beiden Leidenschaften gar nicht so sehr voneinander: In beiden geht es darum, sich vollständig auf einen Moment, auf eine Perspektive zu fokussieren. In beiden wird geschossen. Deshalb ist es umso passender, eine solche Begegnung nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern festzuhalten. Nachdem Bigler als Fotosujet hatte herhalten müssen und sich die Begegnung zum Ende neigte, dachte er aber nicht daran, nach Hause zu gehen. Er habe erst die oberen Bereiche des Parcours absolviert, jetzt wolle er noch die anderen machen. Und Bigler verschwand tiefer in den Wald.