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Zwiebeln erklären unser Essverhalten

Mensch | Die meisten Menschen in der Schweiz essen täglich und treffen dabei immer gewisse Entscheidungen. Die Berner Psychologin Ronia Shiftan erklärt, welche Faktoren dieser Entscheidung zugrunde liegen und warum das Thema Essen so komplex ist.

| Thomas Abplanalp | Gesellschaft
Ronia Schiftan
Ronia Schiftan. Foto: zvg

Als Kind ist das Thema Essen einfach: Hat ein kleines Kind Hunger, schreit es. Dann gibt ihm jemand etwas zu essen. Mag es das Essen, isst es genüsslich. Mag es das Essen nicht, spuckt es dieses wieder aus. Im Laufe des Lebens wird das Thema Essen immer komplexer. Warum?
Ronia Schiftan: Viele Determinanten beeinflussen unsere Ernährung. Zur Veranschaulichung dieser Überlegung dient das Determinanten-Modell. Es beschreibt die Einflüsse auf unser Essverhalten mit dem Bild einer Zwiebel. So wie eine Zwiebel aus verschiedenen Schichten besteht, so beeinflussen verschiedene Faktoren unser Essverhalten.

Die erste Schicht besteht aus den natürlichen Gegebenheiten wie dem Alter, dem Geschlecht, den grundsätzlich genetischen Gegebenheiten. Die zweite Schicht besteht aus dem individuellen Gesundheitsverhalten. Dazu gehören unter anderem die Bewegung, das Rauchen und Trinken, die Ernährung, aber auch die psychische Gesundheit. In der dritten Schicht befinden sich die sozialen Einflüsse, also auch Prägungen aus der Familie, Kindheit und von Gleichaltrigen. Danach folgt die Schicht mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen. Faktoren dieses Aspekts sind beispielsweise die Arbeits- oder Schulzeiten. Als Abschluss dient die Schicht der ökologischen und sozialpolitischen Strukturen. Darunter fallen das politische System, in dem wir leben, und die Gegebenheiten der Natur.

Beeinflusst uns eine Schicht am meisten?
Wir sind von allen Schichten beeinflusst. Die Stärke des Einflusses einzelner Schichten hängt davon ab, wie dominant sie sind. Eine genetische Erkrankung, die jemanden dazu zwingen, gewisse Dinge (nicht) zu essen, beeinflusst die Person stark. Oder wer in einer Familie lebt, die viel und häufig über Essen kommuniziert, erlebt hier einen starken Einfluss.

Können wir als Individuen selbst steuern, von welchen Schichten wir unsere Essgewohn-heiten stark beeinflussen lassen wollen?
Dafür müssen wir wissen, warum welche Verhaltensmuster bei uns auftauchen. Dabei hilft eine Analyse des Verhaltens. Isst eine Person zum Beispiel viele Fertigprodukte, kann sie sich verschiedene Fragen stellen: Warum kaufe ich häufig Fertigprodukte? Welche Prägungen sind dahinter? Welche Selbstbilder?

Diese Fragen sollten dann mit einer Fachperson angeschaut werden, wenn man merkt, dass das Thema den Alltag dominiert. Gerade bezogen auf die nächsten Generationen ist das wichtig, weil wir unsere Verhaltensmuster weitergeben.

Essen ist ein komplexes Thema, ein komplexes und unterschätztes Thema. Essgewohnheiten entstehen während des gesamten Lebens, also kann man es ändern. Dafür braucht es Geduld und Toleranz. Und vor allem muss man wissen, warum man es eigentlich ändern möchte.

Gerade das Thema Fleischkonsum scheint enorm zu polarisieren. Woran liegt das?
Das Fleischessen ist ein fester Bestandteil der Esskultur in der Schweiz. Fleisch gilt beim Essen als die Hauptsache, die man sich leistet. Alles andere ist Bei­lage. Zudem bestehen viele Esstraditionen rund um Fleisch, zum Beispiel das Weihnachts- oder Osteressen. Viele kulturelle Anlässe hängen vom Essen ab, man denke hier an das typische Fondue Chinoise zu Weihnachten. Es ist Teil der Familienidentität. Wer kein Fleisch essen und sich gegenüber dem Fondue Chinoise verweigern möchte, droht vermeintlich, die Familienidentität zu brechen. Bezogen auf den Fleischkonsum besteht häufig also eine starke Prägung.

Diese Prägung kommt aus einer Nachkriegsgeneration, die den Konsum von Fleisch als wertvoll betrachtet. Ihr liegt die Angst zugrunde, zu wenig zu haben. Aber wir dürfen die ethisch-moralische Komponente nicht vergessen. Wer hat die Moral? Wer darf über die Moral der Gesellschaft entscheiden? Was ist moralisch vertretbares Verhalten?

Aktuell passiert ein gesellschaftlicher Wandel. Die soziale Norm des Menschen als Fleischesser wird infrage gestellt. Wird ein Grundwert angezweifelt, löst dies Verlustängste oder die Angst vor einem Wertezerfall aus. Das ist gerade in Ländern wie der Schweiz ausgeprägt, weil wir eine sehr individualistische, liberale Lebensweise führen, ohne grosse staatliche Vorschriften.

Wie gelingt es, Essgewohnheiten angst- und sorgenfrei zu ändern?
Wir müssen lernen, über Bedürfnisse zu sprechen. Wir reden eher darüber, was uns weggenommen wird, zum Beispiel das Fondue Chinoise. Aber wo­rum geht es eigentlich? Es ist etwas Schönes, worauf man sich gemeinsam freut. Doch man kann sich auch auf anderes freuen, das man gemeinsam erlebt.

Was auf dem Teller liegt, ist eigentlich egal, wenn es um das Zusammensein gehen soll. Wir müssen als Gesellschaft reflektieren, wie wir mit Werten und Andersartigkeiten umgehen. Dafür müssen wir auch lernen, über Ängste zu sprechen, weil Widerstand im Innern immer ein Zeichen für Stress ist. Deshalb lautet die Grundfrage immer: Was ist da los?

Häufig ist Konsumierenden Geld wichtiger als ein qualitativ hochwertiges Produkt, obschon grundsätzlich genug Geld da wäre. Warum ist uns Essen nicht so viel wert?
Hier lassen sich verschiedene Aspekte aufführen. Unser Essverhalten ist häufig lustgesteuert beziehunsweise hedonistisch. Das heisst, wir kaufen und essen, wo­rauf wir gerade Lust haben, ohne gross über Qualität, Nachhaltigkeit und dergleichen nachzudenken.

Zudem fehlt uns häufig die Kompetenz, über die Herstellung eines Produkts Bescheid zu wissen. Die Frage, was alles passieren musste, damit dieses Produkt in diesem Laden in diesem Regal zu diesem Preis angeboten wird, können wir häufig nicht adäquat beantworten.

Dazu kommt, dass Essen nur eine von vielen Lüsten in unserem Alltag ist. Viele Menschen geben beispielsweise lieber Geld für Ferien aus, weil sie die Befriedigung dieser Lust höher gewichten. Damit einher geht der eher tiefe Stellenwert von kulinarischem Genuss in der Schweiz.

Auf Plattformen wie Youtube gibt es unzählige Videos, auf denen sich Menschen beim Essen filmen. Diese Videos wurden und werden millionenfach angeklickt und angeschaut. Warum schauen wir anderen gerne beim Essen zu?
Das Spektrum an Antworten ist hier vielfältig und nicht abschliessend.

Beispielsweise hat sich etwas in den Mund zu führen etwas Intimes. Deshalb generieren viele solcher Videos Klicks aus dem Fetischbereich.

Eine andere Erklärung finden wir in Japan, wo Einsamkeit ein grosses Thema ist. Essen ist ein sozialer Akt und alleine zu essen entsprechend lustabtragend. Menschen haben sich also gefilmt, damit sie das Gefühl haben, nicht alleine zu essen.

Dann gibt es noch den Trend «Mok-Bang». Dieser Videotrend aus Südkorea besteht darin, dass Leute versuchen, möglichst viel auf einmal zu essen. Solche Videos anzuschauen, hat etwas Voyeuristisches, ganz nach dem Motto, je extremer, desto geiler. Man fragt sich, wie diese Person das macht. Hier schwingt eine gewisse Sensationsgeilheit mit.

Apropos Youtube. Welchen Einfluss haben soziale Medien auf unser Essverhalten?
Eines der beliebtesten Themen auf Social Media ist Lifestyle/Fitness. Essen ist ein grosser Teil davon. Deshalb wollen viele Videos Kochkompetenzen vermitteln. Zum Beispiel wird erklärt, wie man einen Granatapfel schneiden kann, ohne die Küche vollzuspritzen.

Neben diesen Alltagstipps finden sich auch viele explizite Informationen zum Thema Essen auf Social Media. Darunter sind aber viele Fakenews oder sehr tendenziöse Geschichten. Aber die Vermittlung hat auch Positives: Viele Menschen fotografieren ihr Essen gerne. Damit geht meistens eine starke Botschaft einher. Viele Leute wollen damit zeigen, dass sie sich einen schönen Abend mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin oder mit Freunden machen. Und weil wir so viele Essensbilder kursieren sehen, steigt die Präsenz vom Thema Essen.

Besteht noch ein weiterer Zusammenhang zwischen Social Media und Essen?
Obschon sich viele Beiträge ums Essen drehen, geht es häufig nicht ums Essen, sondern um den Körper. Je nachdem, wem ich folge, wirkt sich ein hoher Konsum von Social-Media-Beiträgen negativ auf mein Körperbild aus. Das löst Stress aus. Studien konnten entsprechend zeigen, dass weniger Social-Media-Konsum mehr Entspannung bringt.

Wer nicht auf Social Media verzichten möchte, kann sie auch als Intervention verwenden, um das eigene Körperbild zu stärken. Dabei kann helfen, sich zu überlegen, wen man in die eigene Stube einladen würde. Wen nicht, dem oder der sollte man auf Social Media nicht mehr folgen. Eine andere Art der Intervention besteht darin, Leuten zu folgen, die eine gegenteilige Ansicht zeigen.

Hier lässt sich der Bogen zum Determinanten-Modell schliessen. Alles Gesagte verdeutlicht die Komplexität rund ums Essen. Ob Traditionen, Gelüste, Social Media oder anderes; um das eigene Essverhalten zu reflektieren, hilft es, sich eine konkrete Frage zu stellen: Was denke ich, beeinflusst mein Essverhalten?


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